Schauen Sie nicht nur auf die Sonntagsfrage! Das große Schönenborn-Interview zu Wahl und Umfragen
Worauf sollen Redakteure achten, wenn sie eine Umfrage lesen?, fragte ich Jörg Schönenborn, den WDR-Chefredakteur und Umfragen-Papst der ARD. Seine Empfehlungen:
„Zum einen: Achten Sie auf das Datum der Befragung. Nicht selten sind Zahlen unterwegs, die aus der letzten Woche stammen und über die aktuelle Situation nicht mehr viel sagen. Und die andere: Gucken Sie bitte nicht nur auf die Sonntagsfrage.“
Diese Antwort ist Teil eines großen Interviews mit Jörg Schönenborn, das die Thüringer Allgemeine am 3. August veröffentlich hat – zum Auftakt der Wahlwette, bei der die Leser im Internet den Wahlausgang vorhersagen sollen; erfunden hat die Wahlwetter die Saarbrücker Zeitung, die auch das technische Wissen vermittelt und die Führerschaft der Aktion übernommen hat. Etwa ein Dutzend Zeitungen beteiligt sich an der Wahlwette.
Herr Schönenborn, wissen Sie schon, wie die Bundestagswahl ausgeht?
Nein, dann müsste ich ja Hellseher sein. Diese Woche zum Beispiel haben über 40 Prozent der von uns Befragten angegeben, dass sie sich entweder noch nicht entschieden haben oder dass sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegen. Viele von denen werden nicht einmal wissen, wen sie wählen, wenn sie am Wahlsonntag aufstehen, sondern sich wirklich erst in letzter Minute entscheiden. Deshalb ist mir die Botschaft immer besonders wichtig: Umfragen sind keine Prognosen, keine Vorhersagen.
Sie präsentieren Monat für Monat die Sonntagsfrage, also: Wenn heute die Wahl wäre, wie würden die Deutschen entscheiden. Wen beeinflussen Sie damit mehr: Die Politiker oder die Wähler?
Zum Glück bin ich da nicht der Einzige, es gibt andere Institute, andere Zahlen. Sonst wäre die Verantwortung noch größer. Politiker haben im Zweifel ihre eigenen Umfragen, die von den Regierungen und Parteien bezahlt werden. Unsere Zielgruppe sind die Wähler und unser Publikum. Und ich will da nicht drum herum reden: Je schwächer die Parteibindung in Deutschland wird, desto mehr Menschen wählen taktisch. Und das heißt nichts anderes, als dass sie sich an Umfragen orientieren und diese in ihre Überlegungen mit einbeziehen.
Deutschland hat rund 62 Millionen Wahlberechtigte. Warum kommen Sie eigentlich immer mit tausend Bürgern aus oder ein paar hundert mehr? Ist eine Umfrage stimmig mit dieser nicht sehr hohen Zahl von Befragten?
Natürlich gilt bei jeder Umfrage: Je mehr Menschen man befragt, desto genauer sind statistisch gesehen die Ergebnisse. Allerdings gilt aus mathematischen Gründen, dass jenseits von 1.000 oder 1.500 Befragten ein paar hundert mehr den Kohl auch nicht fett machen. Im Übrigen darf man nicht vergessen: Der statistische Messfehler ist das eine, die Unentschlossenheit vieler Befragter das andere. Deshalb ist die Sonntagsfrage eben nur ein Trend und nicht mehr.
Bei den vergangenen Wahlen lagen Sie manchmal reichlich daneben. Nehmen wir die Niedersachsen-Wahl: Die CDU hatte vier Prozent zu viel, die FDP vier Prozent zu wenig. Woran lag es?
Umfragen sind eben wie gesagt keine Vorhersagen, auch wenn das manchmal so verstanden wird. Zehn Tage vor der Wahl hatten mehrere Institute unabhängig voneinander die FDP bei fünf Prozent gemessen, am Ende hat sie fast das Doppelte erreicht. Ich glaube, dass die Umfragen die Stimmung zum Zeitpunkt ihrer Erhebung richtig gemessen haben, aber dann haben selbst CDU-Politiker unmissverständlich dazu aufgerufen, FDP zu wählen, damit sie auf jeden Fall in den Landtag kommt.
Diese Aufrufe haben Wirkung gezeigt, stärker, als es der CDU im Nachhinein lieb war. Übrigens war das in Niedersachsen ein Paradebeispiel dafür, wie die Wähler Umfragen in ihr Kalkül einbeziehen. Das ist übrigens für uns durchaus ein Dilemma.
Wir wissen, dass die Wähler immer öfter wechseln, dass die Stammwähler, die stets ein- und dieselbe Partei wählen, immer weniger werden. Wir wissen auch, dass immer mehr Menschen spontan nicht zur Wahl gehen. Ist dann eine Umfrage nicht eher ein Blick in die Glaskugel als eine wissenschaftlich exakte Forschung?
Nein, Umfragen sind eine ziemlich genaue Messung – aber eben nur zum Zeitpunkt, zu dem sie durchgeführt werden. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Sonntagsfrage eine von 12 oder 14 ist, die wir stellen. Wir fragen auch danach, wie das Betreuungsgeld ankommt, ob Thomas de Maizière zurücktreten soll oder wie Kanzlerkandidat Steinbrück eingeschätzt wird. Nur in der Zusammenschau ergibt sich daraus ein Bild, und die Sonntagsfrage ist ein Mosaikstein. Ich wünsche mir auf jeden Fall Zuschauer, die das ganze Bild wahrnehmen.
Beim vergangenen US-Wahlkampf kam ein Journalist, der Twitter-Meldungen auswertete, zu genaueren Vorhersagen als die Wahlforscher. Sind die Menschen in den sozialen Netzwerken ehrlicher als bei Ihnen am Telefon?
Das ist ein guter Vergleich, der die wesentlichen Unterschiede deutlich macht. In den USA ging es um Romney oder Obama. Das ist verglichen mit dem deutschen Zweistimmen-Wahlrecht eine ziemlich einfache Entscheidung. Die Unsicherheiten bei uns entstehen ja vor allem dadurch, dass viele Menschen einfach nicht mehr wissen, was sie mit ihrer Stimme machen sollen oder ob sie sie überhaupt nutzen. Bei der Frage Merkel gegen Steinbrück tun sich die Menschen übrigens auch bei uns leichter. Aber weder die Wahlforschung noch Twitter kann etwas widerspiegeln, was Menschen für sich selbst noch nicht entschieden haben.
Gerade in den Wochen vor der Wahl gewinnt man den Eindruck, als ob jeden Tag eine Umfrage veröffentlicht wird. Wer gibt die eigentlich alle in Auftrag?
Ja, es gibt eine wahre Umfrageflut. Ein Teil kommt von Instituten, die nach wissenschaftlichen Standards wöchentlich oder monatlich im Feld sind, andere tauchen nur in Vorwahlzeiten auf oder erheben ihre Daten sogar über das Internet. In dieser Phase werden die meisten Umfragen von Medien in Auftrag gegeben. Insgesamt aber gibt es viele unveröffentlichte Umfragen, die Staatskanzleien oder Parteizentralen bezahlen. Und darin liegt für mich der eigentliche Grund für unsere Arbeit: ARD und ZDF sorgen mit ihrer Wahlforschung für Transparenz. Alles, was wir machen, ist öffentlich. Bei uns erfahren die Wähler auch das, was ein Wahlkampfteam lieber unter der Decke hält.
Wie erkennt man, ob eine Umfrage eine seriöse ist?
Im Grunde ist das wie beim Autokauf. Jeder kennt Marken, die seit Jahren auf der Strasse herumfahren oder weiß von Freunden, wo es besonders viele Pannen gibt. Ich kenne nicht alle Institute, aber ich kann Ihnen versichern, dass die Arbeit von Infratest dimap und der Forschungsgruppe Wahlen für ARD und ZDF seriös und in keiner Weise interessengeleitet ist.
Was muss eine Partei für eine Umfrage bezahlen?
Das hängt von der Länge des Fragebogens ab. Eine kurze aktuelle Erhebung kann man sicher für 5.000 Euro bekommen, eine intensivere Studie mit genaueren Fragen kostet aber schnell das Doppelte und Dreifache.
Worauf müssen ein Journalist und ein Bürger achten, wenn sie eine Umfrage lesen?
Ich hätte zwei Empfehlungen. Zum einen: Achten Sie auf das Datum der Befragung. Nicht selten sind Zahlen unterwegs, die aus der letzten Woche stammen und über die aktuelle Situation nicht mehr viel sagen. Und die andere: Gucken Sie bitte nicht nur auf die Sonntagsfrage.
Auch unsere Zeitung – wie andere auch oder Magazine wie der „Spiegel“ – fragen ihre Leser: Wie geht Ihrer Meinung nach die Wahl aus? Wie genau sind diese Umfragen im Internet, an denen Zigtausende von Bürgern teilnehmen?
Ein schwieriges Feld. Um es ganz ehrlich zu sagen: Sie sind in keiner Weise repräsentativ. Denn es nehmen nur Internetnutzer teil, und von denen nur solche, die auch eine bestimmte Seite ansteuern und zudem aus irgendeinem Grund die Mühe auf sich nehmen zu klicken. Ich finde das durchaus interessant, aber man darf es bitte nicht mit repräsentativen Umfragen verwechseln. Übrigens auch dann nicht, wenn Zigtausende mitmachen.
In Frankreich dürfen Umfragen in der Woche vor der Wahl nicht mehr veröffentlicht werden. Würden Sie das auch für Deutschland als sinnvoll erachten?
Die ARD hat sich genau diese Abstinenz selbst auferlegt. Seit wir Wahlforschung machen, gibt es in der letzten Woche vor der Wahl einfach keine Umfragen mehr. Denn das ist die Phase, in der sich die Unentschlossenen wirklich entscheiden. Leider stehen wir damit ziemlich allein. Verbote kann man übrigens ziemlich leicht umgehen, Einsicht wäre mir lieber.
Thüringer Allgemeine 3. August 2013
Sollen unabhängige Journalisten überhaupt wählen gehen?
Er ist stolz darauf, seit 1964 an keiner Präsidentenwahl mehr teilgenommen zu haben, um unabhängig zu bleiben.
So berichtet „Das Parlament“ über Jim Lehrer (78), der zum zwölften Mal das Präsidentschafts-Duell im US-Fernsehen moderiert hat. (8.10.2012) Er hat den Ehrentitel „Mister Objektiv“.
(zu: Handbuch-Kapitel 48-49 Presserecht und Ethik + 2-3 Die Journalisten)
Bundestagswahl 2013: Es geht los!
Gut ein Jahr vor der Bundestagswahl hat die Thüringer Allgemeine mit ihrer Wahl-Berichterstattung begonnen. Im Editorial schreibt die Redaktion:
Nicht erst in den wenigen Wochen vor der Wahl, wenn die Politiker wild kämpfen, werden die Weichen gestellt. Die Parteien suchen schon heute ihre Kandidaten aus, die FDP in Thüringen hat sie sogar schon gewählt.
Wie suchen Parteien die Direktkandidaten aus? Wer bestimmt die Kandidaten, die auf dem Wahlzettel stehen? Wer kungelt die Listen aus, die zum großen Teil entscheiden, wer in den Bundestag einziehen darf – auch wenn er nicht direkt gewählt wird? Warum bestimmen die Wähler nicht mit, wen sie wählen können?
Die Thüringer Allgemeine berichtete zum Auftakt über die Spekulationen zu Wirtschaftsminister Machnig in Erfurt, der in Berlin zum Schattenkabinett von SPD-Parteichef Gabriel gezählt wird. Auf der dritten Seite, dem Thema des Tages, stellte die Redaktion die 18 Thüringer vor, die zur Zeit im Bundestag sitzen und fragte sie, ob sie wieder kandidieren.
Editorial am 20. August 2012:
Ein Fest der Demokratie
Paul-Josef Raue über den Auftakt der TA-Wahlserie„Die meisten Politiker fürchten sich vor den Wählern.“ So schrieb ein Wahlkampf-Berater vor einem Vierteljahrhundert und stellte weiter fest: „Sie können mit dem Mann auf der Straße nicht umgehen.“
Daran hat sich nicht viel geändert. Politiker und Bürger werden sich fremder, was an beiden liegt: Die Bürger verstehen Politiker und ihre Politik oft nicht, aber sie gefallen sich auch in der Pose des Verächters, der um seine Macht weiß und sich um Politik immer weniger kümmert; die Politiker finden sich zunehmend mit der Verachtung ihres Volks ab und machen ihr Ding, das Politik heißt, aber das sie oft auch nicht mehr verstehen.
Beide eint, in ihren schwächsten Stunden, die Ohnmacht: Der Abgeordnete, wenn er etwa über Milliarden abstimmt; der Bürger, wenn er nicht weiß, wer das alles bezahlen muss.
Wem schwindlig wird, wenn er über die Zukunft Europas und Deutschlands nachdenkt; wer sich sorgt um Wohlstand und Arbeit in einer Welt, die sich schwindlig dreht – der ahnt, dass eine Schicksals-Wahl in Deutschland ansteht. Sie ist wahrscheinlich nur vergleichbar der Volkskammer-Wahl 1990, als sich 16 Millionen in der DDR entscheiden mussten, was aus ihrem Land, aus ihrer Heimat, aus ihrem Leben werden soll.
Im kommenden Jahr geht es nicht um das Ende einer Ideologie, es geht gleich um Europa, das unser Schicksal geworden ist, es geht um Deutschland, dem mächtigsten Land in Europa, es geht um unsere Zukunft.
Es klingt dramatisch, es ist dramatisch.
Doch sind Wahlen keine Dramen, sie sind kein Anlass zum Erschrecken. Wahlen sind das größte Fest in einer Demokratie. Zehn Stunden lang, von der Öffnung bis zur Schließung der Wahllokale, sind die Politiker in der Hand der Bürger, buchstäblich: Wohin ihre Hand das Kreuz zeichnet, das entscheidet, wer die Macht für die nächsten Jahre bekommt.
Gerade weil die nächste Wahl eine Schicksalswahl wird, ist der informierte, der kritische Bürger nicht nur gefragt, er ist notwendig für unser Land. Aus diesem Grund beginnen wir schon ein gutes Jahr vor der Wahl mit unserer Berichterstattung. Das hat einen guten Grund: Nicht erst in den wenigen Wochen vor der Wahl, wenn die Politiker wild kämpfen, werden die Weichen gestellt. Die Parteien suchen schon heute ihre Kandidaten aus, die FDP in Thüringen hat sie sogar schon gewählt.
Wie suchen Parteien die Direktkandidaten aus? Wer bestimmt die Kandidaten, die auf dem Wahlzettel stehen? Wer kungelt die Listen aus, die zum großen Teil entscheiden, wer in den Bundestag einziehen darf – auch wenn er nicht direkt gewählt wird? Warum bestimmen die Wähler nicht mit, wen sie wählen können?
Diese und viele andere Fragen werden wir zu beantworten versuchen. Und wir werden um ihre Fragen, die Fragen der Bürger, bitten. Eine Wahl ist ein Fest der Bürger. Lassen sie uns die Demokratie schmücken, wir tun es für uns.
(zu: Handbuch-Kapitel 55 Der neue Lokaljournalismus + 4 Was Journalisten können sollten + 56 Service und Aktionen)
Mit Wahlkämpfern unterwegs: Bier auf dem Markt
In 49 Dörfern und kleineren Städten waren die Volontäre der Thüringer Allgemeinen unterwegs, bevor die Wähler am Sonntag ihre Bürgermeister und Landräte bestimmen durften; vor den Stichwahlen in zehn Tagen ist das „TA-Wahl-Mobil“, ein Elektro-Auto, weiter im Einsatz.
Auf den 49 Wahlmobil-Fahrten erlebten die Volontäre allerlei amüsante Geschichten. Tino Nowitzki hat einige aufgeschrieben:
Eigentlich war das Thema eben ernst gemeint. Gerade noch erzählen die Kandidaten von Plänen zur Finanzgesundung und den vielen Visionen, die sie für ihre Stadt haben. Da klirrt es plötzlich hinter ihnen.
„Ich dachte, die Herren hätten vielleicht Durst“, sagt ein fröhlich grinsender Mann, der gerade aus seiner Bar geeilt kommt, und hält ein Tablett mit sechs Gläsern Bier in die Runde. Der eine zögernd, der andere dankbar, setzen die Männer zu einem kräftigen „Prost!“ an. Die seriösen Politikermienen entkrampfen sich im Handumdrehen zu strahlenden Gesichtern.
Freilich war diese Szene vom Wahlmobil in Heiligenstadt ein fröhlich-perlender Einzelfall. Und doch sind uns auf den 49 Fahrten zu Thüringens Marktplätzen und Rathäusern neben wichtigen Themen auch viele Kuriositäten begegnet.
Und Heiligenstadt im Eichsfeld hatte davon sogar gleich zwei zu bieten: In keiner anderen Stadt nimmt man es wohl so genau mit Regeln und Verordnungen. So kommt es, dass wir dort schon mal gefragt wurden: „Haben Sie eigentlich eine Genehmigung für das, was Sie hier machen?“
Aber die Eichsfelder Liebe zur Ordnung hatte auch seine guten Seiten: Die gesamte Zeit über wurde das Treffen mit Heiligenstadts Bürgermeisterkandidaten argwöhnisch von einem Polizeibeamten bewacht. Der wohl sicherste Termin der Serie.
Darfs eine Flagge sein? Oder ein Espresso?
Anderen Orts ging es dagegen vergleichsweise chaotisch zu: In Nordhausen zum Beispiel waren wir zuerst verblüfft von der offenen und geselligen Art der fünf Kandidaten, die sich auch miteinander prächtig zu verstehen schienen. Die Ungezwungenheit ging am Ende aber so weit, dass die Bewerber lieber untereinander klönten und ein Wahlmobilreporter alle Mühe hatte, die Gruppe bei Disziplin zu halten. So schnell lässt sich eine Respektsperson in Uniform vermissen.
Bald wurde uns klar: so bunt Thüringens Landschaften sind, so vielfältig sind auch seine Kommunalpolitiker. Während die einen im Umgang mit Medien eher unsicher wirkten, strotzten andere vor Professionalität: Da kam es schon mal vor, dass ein Kandidat mit eigener Werbe-Flagge um die Ecke bog. Ein anderer verteilte unbefangen Tütchen mit löslichem Espresso – darauf das lächelnde Gesicht des Bewerbers.
Manchmal waren wir aber auch froh, überhaupt zum Termin am Rathaus zu finden. Vor allem dann, wenn die Gemeinde-Zentrale zuvor clever versteckt wurde – zum Beispiel in einem unscheinbar wirkenden Wohnhaus in Fretterode oder in einer alten Dorfschule in Bufleben.
Überhaupt hat uns wirklich überrascht, wie verschieden doch die Arbeitsplätze von Thüringens Bürgermeistern aussehen. Vom fast feudalen Amtssitz aus der Renaissance mit Giebeln und Türmchen (Gotha) bis zum Mietbüro mit Briefkasten im Plattenbau (Seebach) war alles dabei.
Auch mit Bürgern war es nicht nur leicht. Wo sie hinzukamen, stellten sie meist wichtige und erhellende Fragen. Hin und wieder aber mischte sich auch ein Querulant darunter, der Kandidaten und Publikum mit ellenlangen Vorträgen traktierte. Nicht selten, so stellte sich heraus, handelte es sich dabei um einen getarnten Partei-Sympathisanten.
Andere Bürger – meist ältere – fanden die Art und Weise, wie die Treffen stattfanden, so gar nicht vergnüglich: Dem einen war es zu früh oder zu spät, der andere fragte: „Warum haben Sie eigentlich keine Bänke zum Sitzen mitgebracht?“ Anregungen, die wir für die Zukunft aufnehmen werden.
Und da wäre noch das Auto. Dessen offizieller Titel „Wahlmobil“ sorgte beim einen oder anderen Bürgermeisterkandidaten für Verwirrung. „Ist das schon alles?“, hieß es dann. „Ich hatte einen Bus erwartet“.
Enttäuscht war auch so mancher, als wir statt Elektroauto mit einem „herkömmlichen“ Vehikel um die Ecke bogen. Doch der Wechsel war dann und wann nötig, allein um gewisse Strecken überhaupt zu meistern. Zumindest hat uns das gezeigt, welche erstaunliche Fan-Basis unser kleiner Strom-Mitsubishi inzwischen hat.
Als es mit der Stromladung einmal besonders knapp wurde, hieß es gar Zwischenladen mitten im Thüringer Wald, in Ilmenau. Zum Glück gibt es dort seit Kurzem eine Elektrotankstelle der Stadtwerke am Bahnhof.
Doch mal eben so Strom zapfen? Gar nicht so einfach. Für die Nutzung mussten wir uns registrieren, einen Pfand von 20 Euro hinterlegen und bekamen dafür unsere „eMobility-Card“ mit Nummer 01: Die ersten Kunden überhaupt. Dafür konnten wir unser Ladekabel andocken und schafften es zurück zur Erfurter Redaktion.
Trotz aller Widrigkeiten: Genossen haben wir die Tour durch Thüringens wählende Gemeinden allemal. Sie hat uns gezeigt: Hinter den strahlenden Gesichtern auf Wahlplakaten stecken ganz normale Menschen. Menschen, die in den letzten Wochen um jede Stimme gekämpft haben.
Da sei auch ein erfrischendes Pils gegönnt.
/ Thüringer Allgemeine, Freitag, 20. April 2012
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)
Zum FDP-Parteitag: Politiker drinnen – die Bürger draußen
Birgit Homburger ist drinnen, und wir sind draußen, Sie, die Leser, und ich, der Blogger. Birgit Homburger ist Vize-Vorsitzende der FDP; sie sagte vor dem Parteitag:
„Die FDP muss sich an dem orientieren, was die Menschen draußen interessiert.“
Wenn es ein Draußen gibt, gibt es auch ein Drinnen. Und da sitzen die Politiker, die die Macht haben, die entscheiden, die unter sich bleiben, die wissen, was denen da draußen gut tut – und die vor Wahlen oder bei schlechten Umfrage-Werten mal nach draußen schauen und schaudern.
Wer als Politiker nach draußen schaut, der blickt aus dem Raumschiff in die Wüste des All-Tags. Auch wenn drinnen die Ellbogen spitz sind, die Intrigen besonders schlau und die Kämpfe unvermindert hart, so ist es immer noch kuscheliger als draußen. Zumindest stimmt die Pension, wenn man nicht mehr drinnen ist.
Was die FDP-Vize ausspricht, ist Haltung vieler Politiker in Berlin oder anderen Raumschiffen des Drinnens, gleich welcher Partei. Nur manchen dämmert, dass ihr Raumschiff eigentlich ein Gefängnis sein könnte; dort ist man lieber draußen als drinnen.
Wie werde ich Bürgermeister? – Wahlen im Lokalen
Am heutigen Sonntag (22. April 2012) wählen Thüringer in den meisten Städten und Landkreisen ihre Bürgermeister und Landräte. Die Thüringer Allgemeine hat über viele Woche ihre Leser neugierig gemacht auf die Wahl, die Kandidaten, die Probleme in ihrer Stadt, die Lösungen, die Möglichkeiten.
Mit dem TA-Mobil, einem reinen Elektro-Auto (mit all seinen Tücken), fuhren die Volontäre jeden Tag in eine der kleineren Städte, um mit den Kandidaten auf der Straße zu sprechen; die Leser waren zu diesen Interviews eingeladen, die Termine angekündigt.
Die Volontäre besuchten 49 Städte und Gemeinden, die sie zumeist zum ersten Mal sahen, sie sprachen mit weit über hundert Kandidaten. In seiner Bilanz erzählt Nicolas Miehlke von den finanziellen Schwierigkeiten von Bürgermeistern und Bürgern, von Fördermitteln und der Neuordnung der Gemeinde-Grenzen, aber er schreibt auch (TA 20.4.2012):
In den kleinen Gemeinden haben wir Menschen getroffen,die sich einfach für ihren Ort engagieren wollen, fernab von Parteimeriten. Leute, die reden, wie es ihnen aus dem Herzen kommt, und sich nicht mit Politikersprech ins Ungefähre retten.
In 16 von 49 Kommunen gab es auch keine Widerrede, weil es nur einen Kandidaten gibt und die Wähler nur Ja oder Nein stimmen können.
Alle Artikel, alle mehrspaltig als Aufmacher, standen im Thüringen-Teil der Thüringer Allgemeinen, hatten also die größtmögliche Leserschaft – selbst wenn es um den Bürgermeister einer Gemeinde mit nur wenigen tausend Einwohnern ging.
Mein Leitartikel in der Ausgabe vor der Wahl (21.4.2012) war auch ungewöhnlich, wandte sich an die Bürger, die laut verkünden, das Vertrauen in die Politiker verloren zu haben.
Wie werde ich Bürgermeister?
Haben Sie auch kein Vertrauen mehr in unsere Politiker? Sind Sie enttäuscht von den Parteien? Klopfen Sie ihrem Nachbarn auf die Schultern, wenn er über den Zustand unseres Landes klagt?
Wenn einer sagt: „Es wird immer schlimmer“, nicken Sie dann und wiederholen: „Ja, immer schlimmer.“ Und wissen Sie auch nicht, wie man das ändern kann?
Warum kandidieren Sie nicht? Als Bürgermeister beispielsweise. In einigen thüringischen Städten gibt es nur einen Kandidaten, so dass die Bürger keine richtige Wahl haben.
Warum sagt keiner von denen, die immer nur klagen: Ja, ich werde Bürgermeister! Ich zeige, wie man es besser macht! Ich beweise, dass die Bürger Vertrauen haben können – in mich beispielsweise!
„Das ist ein Scherz“, sagen Sie. Nein, in kleineren Städten reichen ein paar Tausend Stimmen und ein überzeugender Auftritt – und Sie sind gewählt, sogar ohne einer Partei nahetreten zu müssen.
Für die Wahl am Sonntag kommt eine Kandidatur wohl zu spät, aber Sie können es sich ja überlegen: Schon in zwei Jahren beispielsweise wählen die Thüringer die Gemeinde- und Stadträte.
Wenn Sie gewählt wurden, weil ihnen die Bürger vertrauen, dann klagen Sie vielleicht nicht mehr so laut. Vielleicht sagen sie: „Es geht uns eigentlich recht gut in dieser Demokratie. Sicher, manches könnte besser sein, aber ich kann ich ja dafür kämpfen.
In einer Demokratie darf man stöhnen und verdrossen sein ohne Ende. Aber man darf auch mitmachen, es besser machen. Zumindest sollte man wählen gehen.
Am Sonntag auf jeden Fall.
Online sind alle Artikel und Bilder zu sehen auf:
www.wahlen-in-thueringen.de
Dort stehen heute im Wahl-Ticker auch alle Ergebnisse.
(zu: Handbuch-Kapitel 56 „Service und Aktionen“)
US-Verhältnisse nach der Wulff-Affäre
Es dürfte bald kein unveröffentlichtes Details mehr geben in Wulffs Amts- und Privatleben, vor allem in der Vermischung der Leben. Es gibt einen Grund, warum die Opposition so milde ist in der Verurteilung Wulffs: Kein Politiker will dasselbe erleben und erleiden wie der Bundespräsident.
In den USA ist es normal, dass die Medien das Unterste nach oben kehren, wenn ein Politiker Karriere machen will. Wahlkämpfe sind nach unserem Verständnis immer schmutzige Wahlkämpfe.
Diese moralischen Kehrwochen der US-Medien haben zwei Funktionen:
- Sie zeigen, worauf die Bürger anspringen und was sie tolerieren;
- sie ermitteln, ob der Kandidat die Nerven hat für ein hohes Amt.
Nach der Wulff-Affäre, ob mit oder ohne Rücktritt, werden wir wohl US-Verhältnisse haben. Das Internet ist nicht die Ursache: Amerikanische Medien hatten die Kehr-Woche schon immer auf der Tagesordnung.
Allerdings beschleunigt das Internet die Einführung in Deutschland:
• Journalisten sind nicht mehr die einzigen Akteure, die über Berichten oder Verschweigen entscheiden;
• die Bedenkzeit ist extrem kurz geworden, da sich Nachrichten in Minutenschnelle vervielfältigen – ob mit oder ohne die klassischen Medien.
(zu: Handbuch Kapitel 5 „Internet-Revolution (Das Internet wirbelt die Mächtigen durcheinander)“ und Kapitel 10 „Was Journalisten von Bloggern lernen können“ und Kapitel 48 „Wie Journalisten entscheiden“)
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