Advent, Fasten und Entschleunigung: Vier Wochen ohne Push-Nachrichten (Friedhof der Wörter)
Ein Advents-Sonntag im prall gefüllten Erfurter Dom: Der Prediger erinnert daran, dass die vier Wochen vor Weihnachten früher eine Fastenzeit waren. Er empfiehlt, der Tradition wieder zu folgen – durch zumindest zeitweiligen Verzicht auf Smartphone und Laptop: Die Push-Nachrichten ausstellen, die unentwegt aktuelle Top-Informationen senden, Nachrichten konzentriert verfolgen statt unentwegt auf Sendung zu sein, also mehr Ruhe und Zeit zum Nachdenken.
Entschleunigung heißt das neue Wort, das der in Leipzig geborene Psychologe Jürgen von Scheidt erfunden hat – erst vor rund vier Jahrzehnten. Das Gegenwort, die Beschleunigung, ist um Jahrhunderte älter und war schon lange vor dem Auto, das die Beschleunigung mag, in unserer Alltagssprache angekommen.
Die Vorläufer wie „schlaunen“ oder „schleunen“ sind längst begraben, und selbst „schleunig“ in der Bedeutung von schnell wartet auf seine Beerdigung. Lessing nutzte es noch in seiner „Theatralischen Bibliothek“: Die Lehrerin fragt ihre Schülerin Actrise:
„Wenn Sie von einem Menschen, den Sie zärtlich liebten, verlassen würden: Würden Sie nicht von einem lebhaften Schmerz durchdrungen sein?“
Aber Actrise antwortet: „Ich würde auf das Schleunigste einen andern Liebhaber zu bekommen suchen.“ So redet heute keiner mehr, erst recht keine junge Verliebte.
Jahrhunderte schätzten die Menschen die Beschleunigung und kamen nicht auf die Idee, das Gegenteil zu denken oder ihm sogar ein Wort zu schenken. Sie ahnten auch nicht, wie sich der Mensch in der Beschleunigung selbst überholen wird – bis zur Veränderung der Körperhaltung: Millionen, vor allem in der Wisch-und-Klick-Generation, laufen mit gesenktem Kopf durch die Welt und schauen unentwegt auf den kleinen Bildschirm ihres Telefons.
Was sie dort lesen, ist übrigens für den Prediger im Erfurter Dom oft Teufelszeug. Er liest bei dem Evangelisten Lukas, der Jesus im Tempel zitiert:
Seht zu, dass ihr nicht irregeführt werdet; denn viele werden unter meinem Namen kommen. Lauft ihnen nicht nach! Wenn ihr aber von Kriegen und Aufständen hört, ängstigt euch nicht.
Geschrieben vor zweitausend Jahren.
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Thüringer Allgemeine, 7. Dezember 2015, Friedhof der Wörter
Quelle Jürgen vom Scheidt: Wikipedia
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