Das verlorene Herz oder: Die schönste Liebesgeschichte der Welt (Weihnachts-Editorial)
Die Geschichte der Frau, die das Herz ihres Mannes sucht, ist eine der schönsten Liebesgeschichten der Welt. Diese etliche tausend Jahre alte Geschichte geht zu Herzen, auch wenn sie grausam beginnt wie so oft, wenn es um die garstigen Spiele der Mächtigen geht; aber sie endet so romantisch wie ein Hollywood-Film.
Das Herz ist wirklich verloren gegangen. Der geliebte Mann der Isis ist von seinem Bruder Seth ermordet worden. Um der Seele keinen Frieden zu schenken, zerstückelt Seth die Leiche und zerstreut die Teile über das große Land Ägypten.
Isis sucht verzweifelt das Herz, segelt den Nil hinauf, vielleicht in einem der Feluken, einem dieser schönen Boote mit dem großen weißen Segel, die noch heute die Touristen faszinieren. Dort wo Ägypten endet, in den Stromschnellen des Nils, findet sie auf einer Insel sein Herz.
Die Ägypter verehren Isis, die Herzens-Sucherin, als Göttin der Liebe und bauen auf der Insel, wo sie das Herz fand, einen Tempel.
In Götter-Legenden ist vieles möglich: Zwar will der geliebte Mann nicht wieder ins Reich der Lebenden zurückkehren, doch Isis zeugt mit ihm einen Sohn. So wird diese uralte Romanze zu einer Weihnachtsgeschichte.
Im Isis-Tempel schauten die Ägypter auf die Statue der Isis mit dem Sohn auf ihrem Schoss. Der Sohn ist der Gott Horus, der höchste der Götter. Die Geschichte von der höchst irdischen Geburt Gottes – zudem unter widrigen Bedingungen – dachten sich die Priester Jahrhunderte vor der Geburt in Bethlehem aus. Die Juden, die lange in Ägypten lebten, hörten sie und bauten sie in ihre Geschichte ein.
Religion ist zuerst Geschichte und Geschichten, wandelbar – eben Menschenwerk. Wer es nur als metaphysische Spinnerei verachtet, verzichtet auf den Reichtum der Erfahrungen der Menschheit; diese entdecken wir in den Mythen, Legenden, eben auch in der Weihnachtsgeschichte.
Auch unsere Weihnachts-Erzählung gründet viel tiefer und zeigt, dass das Christentum – und erst recht der Islam – jung ist in der viel tausendjährigen Historie der Menschen. Nicht nur wir, sondern alle Generationen vor uns, stellten die Frage nach dem Warum: Wie ist entstanden, was wir sehen, fühlen, denken und verlieren?
Die Menschen haben stets ihre Wurzeln gesucht und aus den Erinnerungen die Basis ihres Wissens geschaffen. Wer demütig hinter den Schleier der Vergangenheit schauen will, kann seine Gegenwart verstehen. Wer diesen Schleier unberührt lässt, verharrt im Hochmut der Gewissheit, dass er allein alles verstehen und schaffen kann.
Thüringer Allgemeine 24. Dezember 2012
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