Die Bildunterschrift – da versagen selbst Profis zu oft
Das Foto auf der Titelseite der FAZ vom 28. November 2015: Ein unbekanntes Gebäude mit 18 Flaggen in blau-weiß-rot, den französischen Nationalfarben. Dazu die Bildunterschrift:
Ein Volk trauert: In seiner Ansprache erinnerte Präsident Hollande die Franzosen daran, dass die Freiheit jeden Tag verteidigt werden müsse.
Auf dem Bild ist weder das Volk zu sehen noch der Präsident, erst recht nicht redend. Der Leser erfährt nicht, welches Gebäude er sieht. Das ist ein typischer Fehler, der selbst Profis immer wieder unterläuft: Sie setzen beim Leser voraus, dass er weiß, was er sieht – dabei wissen das zwar Redakteure, aber nur wenige Leser.
Auch die Überschrift hilft dem FAZ-Leser nicht, sondern verwirrt: „130 Lachen, die wir nicht mehr hören werden“. Dabei nehmen Leser das Bild und die Überschrift als eine Einheit auf: Steht in der Überschrift etwas anderes, als auf dem Bild zu sehen ist, ist der Leser so verwirrt, dass er in der Regel weiterblättert. Die Text-Bild-Schere oder „kognitive Dissonanz“ ist ein Rausschmeißer: Dann kann der Artikel noch so gut geschrieben sein, der Leser beginnt erst gar nicht mit der Lektüre.
Wie machten es andere:
- „Viele Pariser Bürger folgten dem Aufruf, Fahnen ins Fenster zu hängen“, steht unter dem Bild bei Deutschlandfunk Online. Die Bildzeile ist besser, aber nicht gut: Wo steht das Haus genau?
- Spiegel Online nutzt offenbar die von Reuters mitgelieferte Bildzeile: „Patriotischer Trauerflor am Invalidendom: Fahnen an den Fassaden im Pariser Zentrum (Foto: Reuters)“. Auch die Bildzeile ist auch nicht akzeptabel: Wo ist der Trauerflor? Oder sind die Flaggen der Trauerflor (im Singular?) Ist der Invalidendom zu sehen oder eine beliebige Fassade im Zentrum? Das Foto zeigt offenbar nicht den Innenhof des Invalidendoms, jedenfalls nicht den Innenhof, auf dem die Trauerfeier stattfand. Auch wird nicht genannt, welches Haus im Pariser Zentrum zu sehen ist.
Das „Neue Handbuch des Journalismus“ widmet der Bildunterschrift (oder: Bildzeile) ein eigenes Kapitel:
Als Minimum muss die Bildunterschrift erklären, wer oder was auf dem Foto zu sehen ist, und darf nichts behaupten, was auf dem Foto nicht zu sehen ist… Geben Sie präzise Informationen… Schreiben Sie konkret, nie allgemein… Schreiben Sie stets im Präsens.
Was wäre eine akzeptable Bildunterschrift:
Pariser Bürger hängen die Trikolore, die französische Nationalflagge, in die Fenster so wie hier in der Nähe des Invalidendoms (?). Sie folgen – wie überall in Frankreich – einem Aufruf des Staatspräsidenten nach den Terror-Anschlägen in Paris.
Der FAZ-Ausgabe vom 28. November 2015 seien anlässlich der vom französischen Präsidenten verordneten nationalen Trauer nach den Terroranschlägen am 13. November in Paris auf der Titelseite einige handwerkliche und gedankliche Fehler passiert. Dies meint Paul-Josef Raue, zuletzt Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, Erfurt.
Der Zusammenhang von Schlagzeile „130 Lachen, die wir nicht mehr hören werden“, einem illustrierenden Foto, das ein mit Nationalflaggen ausstaffiertes unbekanntes Gebäude zeigt und der Bildunterzeile „Ein Volk trauert: In seiner Ansprache erinnerte Präisent Hollande die Franzosen daran, dass die Freiheit jeden Tag verteidigt werden müsse“ , verwirre das Lesepublikum. „Ein typischer Fehler, der selbst Profis immer wieder unterläuft.“, so Raue.
Was könnte ein journalistischer Profi aus dieser berechtigten Kritik lernen?
Einer „Schlagzeile“ wird im journalistischen Tagesgeschäft in der Regel mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den Texten zum illustrierenden Bild. Soll erstere den Text zu einem bedeutenden Ereignis als interessante und lesenswerte Nachricht erscheinen lassen, ist die Wahl eines passenden Bildes dazu meistens sehr schwierig und oft entweder gewagt oder schlichtweg langweilig. Die Tageszeitung konkurriert mit bewegten Bildern, die am Tag zuvor bereits schon in anderen Medien zu sehen waren. So bietet es sich als ein „Ausweg“ aus dieser Zwickmühle an, ein Foto eher symbolischer Aussagekraft zu wählen und zu drucken insbesondere zu einer natioalen Trauerfeier nach spektakulär geplanten Terroranschlägen in Serie. Dabei werden beim Lesepublikum die vorausgegangenen Ereignisse als bekannt vorausgesetzt. Dies ist an sich nicht verwerflich. Man hätte dieser Thematik allerdings auch in der Bildauswahl analytisch eine andere Wende geben können.
Brutal gesagt sind nationale Trauerfeiern das langweiligste Ereignis nach noch so schlimmen Attentaten und/oder Naturkatastrophen, die wahllos Menschenleben vernichteten. Die Kolleginnen und Kollegen wahrscheinlich am FAZ-Desk haben sich möglicherweise aus „Betroffenheit“ und „Solidarität“ mit französischem Nationalpathos gemein gemacht.
Auf den gedruckten Bildtext und die Rede des Präsidenten bezogen, „dass die Freiheit jeden Tag verteidigt werden müsse“, hätte man dies auch in Erwartung dessen, was da demnächst politisch kommen wird und bereits geschieht, ein Foto mit französischen Panzern oder einer Mirage-Staffel abdrucken können, die die Farben der Trikolore hinter sich herzieht, ein kleines Foto von Präsident Hollande vielleicht eingeblendet.
Der Risiken eines solchen fragwürdigen Vorschlags bin ich mir sehr bewusst, weil damit ein Foto die Rede des Präsidenten kommentierend eingesetzt wird. Ein paar Zeilen im Bildtext können die Foto-Auswahl begründen und auf den nachrichtlichen Text verweisen. Zugleich erübrigen sich die letztendlich belanglosen Fragen, welche Gebäude in Paris genau aus gegebenem Anlass beflaggt wurden. Die kommentieren außer Trauer schließlich im Subtext ebenfalls konkrete Wehr- und Kriegsbereitschaft. Profis sollten sich also zunächst immer über die Bildauswahl den Kopf zerbrechen, was voraussetzt, dass „Ereignisse“ und deren Hintergründe verstanden werden.So kann „kognitive Distanz“schon auf der Titelseite produktiv wirken.