„Die Bürger haben das Vertrauen verloren“ – Interview zu „Chemnitz“ im Südkurier

Geschrieben am 30. August 2018 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 30. August 2018 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, G 26 Interview.

Birgit Hofmann ist Politik-Redakteurin beim Südkurier in Konstanz. Sie führte das Interview, veröffentlicht am 30. August im Südkurier.  Xing-Foto

Herr Raue, dass ein rechter Mob die Straßen in Chemnitz beherrscht, haben Sie so etwas kommen sehen?

Im Osten muss man wahrscheinlich viel öfter als im Westen damit rechnen, dass so etwas passiert. Nach den Vorkommnissen der letzten Tage muss man schlicht und einfach sagen, dass vor allem die Polizei und die Politiker in Sachsen, aber auch in den anderen Bundesländern damit rechnen müssen. Wenn man sich das erbärmliche Schauspiel anschaut, wie der Polizeipräsident bei der Pressekonferenz auftrat, oder dass der Bundesaußenminister sich schämt, dass das Ausland jetzt auf uns schaut, dann muss man sagen: Sie müssen wissen, dass der Rechtsradikalismus im Osten keine Banalität ist, die man vernachlässigen könnte.

Was gerade in Chemnitz passiert ist, das hat in Sachsen System. Gerade in den letzten Jahren gab es ja immer wieder dramatische rechte Vorfälle. Wie konnte es so weit kommen?

Ich glaube, dass ein Großteil der Bürger dort das Vertrauen in die politische Führung verloren hat. Das ist seltsamerweise in Sachsen sehr verbreitet. Sachsen ist ein wirtschaftlich erfolgreiches Bundesland, neben Thüringen das erfolgreichste im Osten, das zum Teil mit süddeutschen Bundesländern mithalten kann. Es hat nach der Wende mit Kurt Biedenkopf einen Ministerpräsidenten gehabt, der in der politischen Bildung nicht der stärkste war, der aber für die Menschen einen Wohlstand geschaffen hat, mit dem sie leben können. Von den äußeren Bedingungen passt das also nicht zu einer solchen Entwicklung. Was genau dort schief läuft, ich glaube, das weiß keiner so recht.

Erschreckend ist ja auch, dass sich die Hitlergrüße in Chemnitz in der braunen Menge gar nicht mehr zählen ließen, so viele waren es.

Wir erleben auch im Westen, dass Ausländer gejagt werden, also Szenen, die unwürdig sind für dieses Land. Man muss sich auf die Suche nach den Ursachen machen und vor allem fragen, wie es sein kann, dass die grausame Zeit des Nationalsozialismus wieder als Lösung für die Gegenwart gesehen werden kann.

Die Polizei hatte trotz mehrerer Hundertschaften und Wasserwerfern keine Chance gegen die grölenden Neonazis, die sich unglaublich schnell zusammengerottet hatten. Das zeigt ja
auch, dass es in Sachsen eine ganz andere Basis gibt.

Ja, wobei wir es hier mit dem Phänomen der sozialen Netzwerke zu tun haben. Ich glaube nicht, dass es unbedingt mehr Leute sind, aber diese sind natürlich viel schneller zu mobilisieren. Man
muss sich nur anschauen, wie Rechtsradikale im Osten Konzerte organisieren und die Leute an einem Abend an drei verschiedene Orte locken und die Polizei gar nicht mehr hinterherkommt. Was
in Chemnitz passiert ist, hat vom Ausbruch und der Gewalttätigkeit her eine neue Qualität. Aber dass sich viele Leute mobilisieren lassen, das beobachten wir im Osten schon seit Jahren.

Sie waren ja ab 1999 Chefredakteur der Magdeburger Volksstimme und ab 2009 der Thüringer Allgemeinen. Wie haben Sie den Osten Deutschlands damals erlebt und was hat sich
seitdem verändert?

Ich glaube nicht, dass sich viel verändert hat. Diese seltsame Unruhe, die in großen Teilen Deutschlands zu spüren ist, gibt es auch im Osten. Doch den Menschen dort fehlen 50 Jahre allmählicher, ruhiger Entwicklung und politischer Bildung. Sie haben die Institutionen nicht wachsen sehen und nicht gemerkt, wie ein Rechtsstaat funktioniert. Man sieht das auch an den Wahlergebnissen: Bei der Bundestagswahl lag die AfD in Sachsen zum ersten Mal auf Platz eins. Das werden wir im Westen, denke ich, so leicht nicht erleben. Auf der anderen Seite ist es erstaunlich, welch hohes Vertrauen die Polizei im Osten genießt. Bei der Frage, welchen Institutionen die Menschen am meisten vertrauen, steht die Polizei an zweiter Stelle. Nur die Stiftung Warentest hat höhere Werte.

Aber Sie sprechen von einer Unruhe unter den Menschen. Woher kommt diese?

Wir haben eine Fremdenfeindlichkeit in diesem Land, die im Osten höher ist als im Westen. Das nützen die AfD und die rechten Kräfte aus. Es ist eine diffuse Angst vor all dem, was man Globalisierung und Digitalisierung nennt. Die Lage in Polen und Ungarn, aber auch mit Trump in den USA ist instabil geworden. Das macht den Menschen Angst. Die Politiker zeigen hier zu wenig Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten auf.

Auffallend ist, dass gerade in ursprünglich kommunistisch regierten Ländern, wie Polen und Ungarn, rechtsextremistische Strömungen Zulauf haben. Wie passt das zusammen?

Was in Polen eher passiert, ist ein Erstarken des Nationalismus. Die Polen können mit Europa nichts anfangen, sie wollen es eher wieder wegschieben. Dort ist es die Angst einer Gesellschaft, die zusammenrückt, weil sie sich von außen bedroht fühlt. So kommt der Nationalgedanke verstärkt hoch, was aber zunächst wenig mit Rechtsextremismus zu tun hat. Das sind sehr schwierige Fragen. Hier genügt es nicht zu sagen, dass das schlimm ist, was in Polen und Ungarn passiert, sondern weshalb Europa nützlich ist.

Vergangene Woche wurde ein ZDF-Kamerateam bei einer Pegida-Demonstration in Dresden eine Dreiviertelstunde von der Polizei festgehalten. Der Mann, der das Team angegriffen hat, entpuppte sich als Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamtes. Sind Behörden und Polizei im Osten auf dem rechten Auge blind?

Bei der Polizei gibt es bestimmt häufiger eine rechte Gesinnung als in der übrigen Gesellschaft. Ich bin mir nicht sicher, ob alle Polizisten wissen, wie wichtig der Journalismus für eine demokratische Gesellschaft ist. Wird in der Ausbildung das Verhältnis zu den Medien thematisiert, wissen sie über die Rechte von Journalisten Bescheid? Es ist wichtig, dass hierüber mit Innenministern, Polizeipräsidenten und  Polizeiakademien geredet wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das an den Polizeischulen nicht ausreichend gelehrt wird. Wir müssen die Polizei stärken, nicht nur finanziell, sondern auch, was Ausbildung und Mannstärke angeht. Auch beim G-7-Gipfel in Hamburg haben wir ein Versagen der Polizei erlebt.

Die AfD ist in Sachsen laut einer aktuellen Umfrage zweitstärkste Kraft. CDU und SPD kämen nicht mehr auf eine Mehrheit. Was meinen Sie dazu vor dem Hintergrund von Chemnitz, wenn Sie auf die Landtagswahl in Sachsen im kommenden Jahr schauen?

Wenn ich mir diesen hilflosen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer in Sachsen anschaue, dann wird’s mir schon bange. Erstmal wie lange er gebraucht hat, um überhaupt Worte zu finden. Als er sich dann äußerte, nahm er die Polizei in Schutz. Und das war’s. Er muss doch irgendwann mal sagen: Wir müssen jetzt handeln. Wenn das in den nächsten Wochen und Monaten nicht passiert, wird das für die gesamte Gesellschaft eine ganz schwierige Wahl. Wenn die Parteien keine Regierung mehr bilden können, ohne die AfD, dann ist das nicht nur ein Problem für Sachsen, sondern für uns alle.

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