Die letzte Tinte – Metaphern und der Film im Kopf
„Es ist schrecklich“, sagt Marcel Reich-Ranicki, Deutschlands berühmtester Kritiker. „Es ist ekelhaft“, sagt er, während er das Israel-Gedicht von Günter Grass liest und ein Journalist zuhört.
Doch an einer Stelle stockt der strenge Mann: „Mit letzter Tinte“. Das sei natürlich gut, sagt er.
Der Journalist ist erstaunt: „Das finden Sie gut?“ „Ja“, antwortet Reich-Ranicki.
„Ist das Bild nicht etwas abgegriffen?“, fragt der Journalist. „Nein! Bestimmt nicht! Das ist doch ein Symbol!“
„Die letzte Tinte“ ist ein Sprachbild. Wer spricht und mit Worten ein Bild zeichnet, der will, dass im Kopf des Lesers ein Film läuft.
Wir sehen den Dichter, wie er an seinem Schreibtisch mit einem Füller ein Gedicht schreibt. Die „letzte Tinte“ verwandelt das einfache Bild in eine Metapher, sie verweist auf eine Bedeutung hinter dem Bild: Der Dichter ist alt, er schreibt sein letztes Werk, benutzt zum letzten Mal seinen Füller.
„Die letzte Tinte“ erinnert noch an eine andere Metapher: Der letzte Blutstropfen; er spricht von der übermenschlichen, gar heldenhaften Anstrengung im Angesicht übermächtiger Feinde und des Todes.
„Die letzte Tinte“ mag kokett klingen, zumal sich der Dichter guter Gesundheit erfreut und keinem Händel aus dem Weg geht. Es ist ein gutes Bild in dem Sinne: Im Kopf des Lesers werden Bilder lebendig, ergeben einen Sinn; ob man ihn teilt, ist eine andere Sache.
Wie schön ist „die letzte Tinte“ im Vergleich zu schiefen Bildern, mit denen wir oft belästigt werden. Welcher Film läuft in unserem Kopf ab, wenn wir beispielsweise lesen: „Wir sollten die Spitze des Eisbergs nicht unter den Teppich kehren“?
(Volker Weidermanns Interview mit Grass, auf das sich der Text bezieht, stand in der FAS am 8. Apri l2012)
(zu: Handbuch-Kapitel 16 „Lexikon unbrauchbarer Wörter“, Metaphern wie Beschreibung (S. 73), sich zu etwas mausern (79), überwältigende Mehrheit (80), aus dem Boden schießen wie die Pilze (82), das Quecksilber kletterte auf 30 Grand (83), Todesfälle, die von Unfällen gefordert werden („törichte, überreizte Metapher schrecklichen Ursprungs, 86), Wetterfrösche (89) – auch: Klischee (77), abgewetzte Metaphern (80)
Diskutieren Sie mit uns den Artikel "Die letzte Tinte – Metaphern und der Film im Kopf"
Ähnliche Artikel zum Thema
- Reich-Ranicki: Was mich am Tod schreckt… (Zitat der Woche)
- Wie Günter Grass von der Waffen-SS schreibt
- Reich-Ranickis Stillehre in vier Worten: Keine Wissenschaft! Keine Fremdwörter
- Journalisten, Schreibblockaden, Alkohol und die Werkstatt Gottes (Zitat der Woche)
- Grass und das „Wörterbuch des Unmenschen“