„Die Welt geht doch nicht unter“: Ein Lob dem letzten Satz (Die Reportage)

Geschrieben am 10. Juli 2016 von Paul-Josef Raue.
Süddeutsche Zeitung, 9. Juli 2016: Seite 3 mit der EM-Reportage von Holger Gertz

Süddeutsche Zeitung, 9. Juli 2016: Seite 3 mit der EM-Reportage von Holger Gertz

Der erste Satz! Wie viele Dichter und Journalisten haben Angst vor ihm, denken stunden-, gar tagelang über ihn nach, bekommen Schreibblockaden, schrumpfen innerlich zusammen, wenn der Chef sagt: Wenn sie den ersten Satz vermasseln, liest keiner mehr den Rest. Reißen Sie sich zusammen!

Aber kaum einer bekommt eine Schreibblockade, wenn er an den letzten Satz denkt, den Rausschmeißer. Zwar steht in den Reportage-Ratgebern: Er ist wichtig, bleibt im Kopf, regt zum Weiterdenken an! Aber bei den meisten Reportern ist die Luft am Ende raus, alle Sprachbilder aufgebraucht, die wirklichen Bilder erst recht. Man stiehlt sich irgendwie aus der Reportage raus, feuilletonisiert ein wenig, öffnet das Fenster einen Spalt für den Weltgeist – Ende.

Holger Gertz‘ Reportage über Frankreich bei der Europameisterschaft beweist das Gegenteil: Ein müder Einstieg, ein umwerfender Schluss, dazwischen eine starke, weil nachdenkliche Reportage, die von Terror und Fußball, dem Lebensgefühl der Franzosen und Schweinsteigers Hand im Strafraum erzählt. Allein die Zwischentitel reizen zum Lesen, einer verführerischer als der andere – und stärker als „Am Ende der Tage“, einer langweiligen Überschrift aus dem Text-Baukasten:

  • Wie viel innere Stärke muss eine Stadt haben, die nach allem, was war, wieder so offen sein kann

  • Der Fußball erdrückt sich mit seinem immer pralleren Programm gerade selbst

  • Und in der Welt passiert so viel, dass manche gar nicht wissen, warum jetzt Schweigeminute ist

  • Deutsche Effizienz? Wir packen uns die Bälle im Strafraum neuerdings mit der Hand

Und dann der letzte Absatz, der sogar mit Assoziationen an Sieg-Heil spielen kann, ohne peinlich zu wirken; der an die Isländer und ihren derb-neckischen Schlachtruf erinnert und im letzten Satz mit dem Terror und unserer Angst ironisch ins Gericht geht:

Die deutschen Fußballfans haben die furchtbarsten Lieder und Rufe, aber vor einer Bar in einer warmen Nacht in Bordeaux brüllen sie nicht „Sieg!“, sie rufen „Hu!“ Ein Fortschritt. Und ein Hinweis darauf, dass die Welt doch noch nicht untergeht.

 

 

Diskutieren Sie mit uns den Artikel "„Die Welt geht doch nicht unter“: Ein Lob dem letzten Satz (Die Reportage)"