Ein westdeutscher Journalist erlebt die drei Epochen der deutschen Revolution (Teil 2)
Fünfundzwanzig Jahre danach wundern sich die Deutschen im Westen, dass die Deutschen im Osten nicht so denken wie sie; und es wundern sich die Deutschen im Osten, dass die Deutschen im Westen sie nicht verstehen. „Das ist doch nicht normal“, sagen die im Westen und halten die im Osten für widerborstig und undankbar. „Das ist doch nicht normal“, sagen die im Osten und halten die im Westen für arrogant und geizig.
Noch schwieriger sind die, die das Sprechen über West und Ost verbieten wollen. Sie argumentieren: Wenn wir nicht mehr über die Trennung sprechen, bauen wir nicht weiter mehr an der unsichtbaren Mauer. Als ob die Wirklichkeit sich an solch gute Ratschläge hält.
Die innere Einheit ist bestenfalls eine fragile Angelegenheit, meint der Berliner Journalist Markus Decker, der sich selbst einen „Ostdeutschen mit westdeutschem Migrationshintergrund“ nennt. Er hat dreißig Westdeutsche interviewt, die in den Osten gezogen sind; selbst über alle, die sich im Osten heimisch fühlen, schreibt er: „Mühelos ist es eigentlich nie“.
Und was für Zahlen! Die Völkerwanderung innerhalb von Deutschland ist beeindruckend:
—— Fast vier Millionen kamen aus der DDR in den Westen; jeder Zehnte ging allerdings wieder zurück;
—— über vier Millionen wanderten nach der Einheit vom Osten in den Westen;
—— Aber auch in die andere Richtung setzte sich vor der Einheit eine halbe Million in Bewegung, meist um die Familie zusammenzuführen.
—— Weit über zwei Millionen wechselte nach 1989 vom Westen in den Osten.
So viele Millionen! Aber die Einheit wartet noch immer. „Merkwürdig, unnatürlich und entsetzlich“ findet ein Engländer den „sogenannten Ossi-Wessi-Konflikt“ und nennt ihn eine Verbitterung: Frederick Taylor kommt aus dem Mutterland der Demokratie, spricht deutsch und schrieb ein dickes Buch über die Mauer und ihre Geschichte. Er erzählt beispielhaft von einer Veranstaltung in Berlin, in der zwei „gebildete Individuen“ aneinander geraten waren:
„Ein Veteran der früheren ostdeutschen Medien behauptete lautstark und der Wahrheit keineswegs entsprechend, dass er noch nie einen Westdeutschen getroffen habe, der auch nur mit einem Cent zum Wiederaufbau des Ostens beigetragen hatte. Woraufhin ein noch bekannterer Medienmann mit einem Schwall von Beschimpfungen reagierte und seinerseits einige farbige Ansichten zum Besten gab über die östlichen Defizite im Umgang mit dem Westen.“
Als Taylor nachher einen deutschen Historiker fragte, der den Streit auch beobachtet hatte, antwortete dieser mit einem verlegenen Lächeln: Herr Taylor, Sie müssen sich wie ein Anthropologe vorgekommen sein beim Studium der Kämpfe primitiver Volksstämme.
Wann hat das angefangen, dieses Misstrauen, dieses Vorurteilen? Wenige Wochen nach den Revolutions-Feiern, dem Klopfen auf die Trabbis, dem Umarmen, dem Glück der Einheit stehe ich geduldig in der Schlange vor einer Eisenacher Metzgerei. Es ist Samstag, ein kalter Wintermorgen mit dem typischen Schwefelgeruch im Eisenacher Tal, der in Nase und Augen beißt, es ist noch DDR.
Ein Mann, knapp fünfzig, in einen Wintermantel mit Pelzkragen gehüllt, kommt in die Metzgerei. Er ist ein Westdeutscher: Jeder konnte damals den anderen an seiner Kleidung und seinem Gang identifizieren. Der Mann geht langsam an der Schlange vorbei zur Theke und legt zwei, drei Hundertmark-Scheine auf das Glas und sagt: „Alles!“ Die Verkäuferin sieht das westdeutsche Geld und packt dem Mann, einem Wirt aus dem nahen Herleshausen, wirklich alles ein. Die Auslagen sind leer geräumt, die Wartenden gehen nach Hause, ohne zu murren.
So hat es begonnen. Erst kam dieser Wirt, dann kamen die Versicherungs-Vertreter und die Verkäufer, die ihre alten Autos zu Neupreisen verkauften, dann die Treuhand und die Unternehmer, die viele arbeitslos nach Hause schickten.
Sicher gab es auch die anderen im Westen – wie den Lebkuchen-Unternehmer aus Bayern, an den sich Katrin Göring-Eckardt erinnert. Er schickte vor Weihnachten 1989 viele Kisten zu einer Kirchgemeinde im Osten. Es waren nicht allein die mit Lebkuchen gefüllten Dosen, die die Menschen rührten, es war die Geste. Göring-Eckardt erinnerte sich später: „Diese Dose gewinnt ihren Wert dadurch, das sich jemand im Westen die Frage gestellt hat: Wie können wir zeigen, dass wir zusammengehören? Man hatte einfach an uns gedacht, und das war schön. Ich weiß, dass viele diese Dose noch heute besitzen.“
Viele aus dem Westen kamen als Idealisten, als Freunde der Revolution in das Land, das immer noch DDR hieß. Viele – als Unternehmer oder in der Treuhand – mussten etwas tun, was unausweichlich war als Konsequenz eines beispiellos verfehlten Experiments, das man sozialistisch nannte. Aber wer urteilt schon gerecht, wenn er nach der Euphorie der Freiheit ohne Arbeit dasteht, mit wenig Geld und noch weniger Zukunft?
Nur – was ist schon normal in einer Revolution? Und erst recht danach?
Die Deutschen haben Erfahrungen mit großen Kriegen und schweren Niederlagen, aber sie haben keine Erfahrung mit Revolutionen. So glauben wir, im Osten wie im Westen, nach dem Knall kommt die neue Zeit, einfach so, vielleicht ein wenig holprig, aber sie kommt. Doch eine Revolution ist keine Bundesliga-Saison, in der nach zehn Monaten der Meister seinen Triumph feiert und der Absteiger seinen Trainer feuert. Revolutionen brauchen Zeit, viel Zeit, und ihr wahrer Erfolg kommt erst spät, für viele zu spät. Deshalb ist der Osten immer noch anders: Die Menschen in Erfurt und Neubrandenburg, in Görlitz und Magdeburg denken, handeln und träumen nicht wie die Menschen in Essen und Braunschweig, in Konstanz und Flensburg.
In diesem Buch „Die unvollendete Revolution“ werde ich die Geschichte der Revolution als eine lange deutsch-deutsche Geschichte erzählen, als meine Geschichte, als mein Erleben – angefangen von den Kerzen in den Fenstern, die ich als Kind für die Brüder und Schwestern in der Zone angezündet hatte. Es sind die Geschichten eines Westdeutschen, den die Zone, die DDR, die Revolution und die nachrevolutionären Wirren in den Bann geschlagen hatte.
Wann hatte ein Deutscher schon mal die Gelegenheit, all dies unmittelbar zu erleben? Die Tyrannei der Unfreiheit und den Rausch der Freiheit und den Kater danach und die Knospen in den blühenden Landschaften? Und dies alles in einem Leben.
Auch eine Revolution hat ihre Zeiten: Das Vorher und Nachher. Unsere Revolution hatte drei Epochen:
> Die erste Epoche war die DDR des Todesstreifens, etabliert als sozialistischer Gegenentwurf zur kapitalistischen Bundesrepublik; beide deutschen Staaten waren entstanden aus dem Erbe des Nationalsozialismus, des Weltkriegs, des Völkermords, der zerstörten Städte, der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen. Es war die Zeit des Stacheldrahts zwischen der sowjetischen und den westlichen Zonen, dem der Mauer folgte, die erste, die wirkliche Mauer. Revolutionen fallen nicht vom Himmel, sondern durchleben eine lange Vorbereitung. Sie erlebte ich – als skeptischer Achtundsechziger – durch einen Freund, der als linker Pfarrer den Sozialismus in der DDR als das bessere Deutschland sah; als Chefredakteur der Oberhessischen Presse in Marburg, das mit Eisenach eine der ersten und durchaus funktionierenden Städtepartnerschaften schuf; als Korrespondent im Bezirk Erfurt, der vieles erlebte und wieder vergaß, aber nachher alles in seiner Stasi-Akte nachlesen konnte.
> Die zweite Epoche war die Revolution, in der sich rasend schnell die zweite Mauer, die unsichtbare, die Trauma-Mauer aufbaute: Verlust des gewohnten Alltags, in dem alles geregelt war; Verlust der gewohnten Arbeit, die planmäßig organisiert war; Verlust des fürsorglichen Staates, der dem treuen Bürger alle Entscheidungen abnahm – und stattdessen eine Dominanz der Westdeutschen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Ich erlebte sie als Chefredakteur der ersten deutsch-deutschen Zeitung, der Eisenacher Presse,
die erstmals am 18. Januar 1990 erschien, und in der Jahrtausendwende als Chefredakteur der Volksstimme in Magdeburg mit Fremdenhass, Töpfchen-Debatte und Menschen, die kollektiv und aggressiv um Haltung kämpften, um das Erbe der Revolution.
> Die dritte Epoche ist die aktuelle, in der sich die dritte Mauer der Resignation und der Ungeduld aufbaut: Den meisten Menschen geht die Angleichung an den Westen nicht schnell genug, sie beklagen das Desinteresse oder den Überdruss des Westens, weiter in den Osten zu investieren – und sehen den Westen als Fremden. Gleichzeitig brechen die Generationen im Osten auseinander, viel leiser als in den Zeiten der Achtundsechziger des Westens: Die Kinder ziehen fort und kommen erst einmal nicht wieder. Es stagniert die Zustimmung zur Demokratie, es wächst der Unmut, sich mit der Geschichte der Diktatur und der eigenen Geschichte zu befassen – im Gegensatz zu den Jungen, die fragen: Wie war das damals, Vater und Mutter, mit Euch in der DDR? Im Osten steigt, wenn auch langsam, die Abneigung gegenüber dem, was man „Politik“ nennt, und es nimmt die Verweigerung zu, sich zu engagieren.
Aber die dritte Mauer hat viele Durchgänge, sie trennt nicht mehr wirklich, sie bröckelt – und sie gefährdet keinen inneren Frieden. Ungefährlich ist sie trotzdem nicht: Die Demokratie im Osten ist weniger stabil als die Demokratie im Westen. Bis zur Revolution 1989 hat der Osten nur Kaiser und Diktatoren erlebt, unterbrochen von der fragilen Weimarer Demokratie. Der Osten hat zwar bereitwillig die äußeren Formen der Demokratie angenommen: Wahlen und Rechtsstaat, Kontrolle der Macht und Mächtigen sowie Freiheit für Presse, Vereine und Berufswahl, Schule ohne Ideologie und die Freiheit, überallhin reisen zu können.
Doch die Ostdeutschen sind so verwirrt, dass vielen in der Rückschau die Diktatur wärmer, gar kuscheliger erscheint, dass der Zusammenhalt stärker war – ob wirklich oder eingebildet. Sie wundern sich: Die Demokratie ist kühl, sachlich und kennt keine Aufmärsche wie die Diktatur. Die Demokratie muss erst langsam die Seelen wärmen. Im Osten wärmt noch wenig. Denn dieses Feuer muss von den Bürgern selbst entfacht werden; das Holz dafür müssen die Politiker, die Regierungen besorgen. Beide Seiten, Bürger wie Politiker, sind noch überfordert: Ein bisschen weniger Adenauer, ein bisschen mehr Willy Brandt täte gut. Demokratie wagen – wäre dafür ein sinnvolles Motto.
Diese Demokratie-Defizite erlebe ich als Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, einer der großen Zeitungen im Osten. Die Beschreibung der drei Epochen wirkt wie ein Holzschnitt. Die Widersprüche und Details folgen in Buch „Die unvollendete Revolution“, sie sind Gegenstand der Erzählungen und Debatten.
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Aus dem Editorial des Buchs „Die unvollendete Revolution“
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