Eine Liebeserklärung an die Revolutionäre im Osten: Warum wir stolz sein können
Können Sie eine Liebeserklärung an den Osten schreiben?, fragte mich der Südkurier-Chefredakteur Stefan Lutz aus Konstanz am Bodensee. Ja, das ist die Liebeserklärung an die Revolutionäre im Osten Deutschlands:
Die Mauerspechte perforieren die Mauer, die Wessis klopfen auf Trabbis als Willkommens-Gruß, und Helmut Kohl und Lothar de Maiziere verhandeln über die Einheit – vor knapp 25 Jahren.
Der eine, Kanzler seit acht Jahren, ist groß und kräftig; der andere, erst seit einigen Wochen DDR-Ministerpräsident, klein und schmächtig. Der Kanzler wähnt sich als Sieger der Einheit; der DDR-Präsident weiß, sein Staat ist pleite und sein Volk will die Einheit, egal wie.
Nach einem der zähen Gespräche bewegt der DDR-Regierungssprecher den sichtbar mürrischen Kanzler dazu, die Journalisten nicht länger warten zu lassen. Er bittet Kohl vor dem Gästehaus nicht auf der obersten Stufe stehen zu bleiben – aus Rücksicht auf den DDR-Präsidenten, der einen Kopf kleiner ist.
Kohl bleibt oben stehen, sieht die Fotografen, zögert und steigt unwillig eine Stufe hinab. Nun sind sie auf Kopfhöhe, die beiden deutschen Regierungschefs: Ein symbolisches Bild in jeder Hinsicht.
Der Starke und der Schmächtige – in diesem Bild fanden sich die Ostdeutschen wieder, als das Trabbiklopfen leise wurde und zwei von drei Ostdeutschen keine Arbeit mehr hatten. Im Südwesten, eine Tagesreise von Schwedt oder Cottbus entfernt, verschwand schnell das Interesse an dem, was man die „neuen Bundesländer“ nennt – ein typisch westdeutscher Begriff, der suggeriert, man habe ein Land erobert.
Dabei haben die Ostdeutschen unmerklich die Achse des neuen Deutschlands (eigentlich das alte, das verfassungsgemäße) nach Osten verschoben: Berlin, die neue Hauptstadt, liegt näher an Warschau als an Paris; die Kanzlerin kommt aus Vorpommern, der Bundespräsident aus einem schmalen Streifen an der Ostsee, den man Fischland nennt.
Man muss die Ostdeutschen nicht lieben, aber man sollte es zumindest versuchen. Denn – was ist das nur für ein stolzes Volk, das hinter dem Todesstreifen die Sehnsucht auf eine Revolution wach hielt – trotz Indoktrination und Angst vor einer Bande unfähiger und die Menschen verachtenden Politiker? Was ist das für ein Volk, das eine Gesellschafts-Ordnung beerdigte, die ihnen ein gutes Leben und frei Rede verwehrte? Was ist das für ein Volk, dem die einzige Revolution in Deutschland gelang, und die auch noch friedlich?
Sie machen einen das Lieben auch nicht leicht, gelten als mürrisch – und undankbar. Undankbar? Wofür sollten die Ostdeutschen danken?
Sicher ist eine Billion oder noch mehr in die Unternehmen, Städte, Straßen und Landschaften gesteckt worden, damit sie blühen. Aber es war eine Laune der Geschichte, dass die Menschen in Erfurt, Rostock und Dresden unter die Knute der Sowjets kamen und ein sozialistisches Experiment auszuprobieren hatten, während die Brüder und Schwestern in Hamburg, Essen und Konstanz an ihrem Wohlstand arbeiten und am Feiertag, dem 17. Juni, in die Biergärten gehen durften. Nach ihrer Revolution bekamen die Ostdeutschen zurück, was ihnen vorenthalten war und ihnen zustand.
Es ist schon ein westdeutscher Hochmut, dafür Dankbarkeit zu erwarten. Und dieser Hochmut geht den Ostdeutschen gegen den Strich. Was haben sie nicht alles ertragen müssen, als dem Rausch der Revolution der Kater folgte?
Wer eine totale, wirklich totale Veränderung seines Lebens und seines Alltags noch nicht erlebt hat, der gebe sich einmal fünf Minuten und denke nach: Gelänge es mir
> mit dem Verlust meines Arbeitsplatzes fertig zu werden – nach einem Arbeitsleben, in dem Arbeitslosigkeit so gut wie nicht vorkam?
> erstmals einen Versicherungs- und Mietvertrag verstehen, eine Steuererklärung abgeben und einen Kreditantrag ausfüllen zu müssen?
> mit einem ebenfalls deutsch sprechenden Menschen einen Kaufvertrag abzuschließen über einen sechs Jahre alten Golf, der fast so viel kosten soll wie ein neuer?
> einen Menschen zu respektieren, der Beamter ist, eine Buschprämie zu seinem hohen Gehalt bekommt und mit mir so unverständlich, aber kompromisslos redet, als habe er einen Unzivilisierten aus dem Busch vor sich?
Viele, zu viele kamen aus dem Westen, um Karrieren zu machen, die sie wegen mangelnder Eignung in ihrer Heimat nie hätten machen können. Trotz dieser Mitläufer und Günstlinge der Revolution, aber auch dank manch wirklicher Helfer gelang den Ostdeutschen ein zweites Wirtschaftswunder, zumindest im Süden des Ostens, in Sachsen und Thüringen.
Wer weiß schon in Konstanz, dass die Arbeitslosigkeit in Thüringen geringer ist als in Nordrhein-Westfalen und die Zahl der Industrie-Arbeitsplätze, in Relation zu den Einwohnern, die zweithöchste in Deutschland? Manches erinnert an den Aufschwung in Westdeutschland nach Verabschiedung des Grundgesetzes: Ein fleißiges und genügsames, bisweilen auch seltsames Volk schafft sich seinen Wohlstand – und denkt nicht über die Vergangenheit nach.
Man sollte sie einfach lieben, aber jeden Fall zu ihnen reisen. Der Osten ist der schönste Teil Deutschlands: Ein Drittel unseres Welterbes ist im Osten zu besichtigen. Wer beispielsweise nach einer langweiligen Fahrt durch die hessische Kulturwüste über die alte Grenze fährt, den grüßt gleich die Ruine der Brandenburg, die Unkundige schon für die Wartburg halten. Es ist eine Perlenkette entlang der Autobahn:
Die Wartburg, auf der Luther die Bibel übersetzte, grüßt oberhalb von Eisenach, wo Johann Sebastian Bach geboren wurde.
Nicht einmal eine halbe Autostunde entfernt lockt die Residenzstadt Gotha mit dem ältesten englischen Landschafts-Park auf dem Kontinent.
Noch einmal eine halbe Autostunde weiter liegt mit Erfurt eine der schönsten und fast vollständig erhaltenen Altstädte Deutschlands mit dem beeindruckenden Dom.
Nebenan liegt Arnstadt mit der Kirche, an der Bach seine erste Anstellung als Organist bekam.
Ja, und dann kommt Weimar, die deutsche Kulturstadt schlechthin, in der Goethe lebte, liebte und schrieb, und Schiller und Herder und viele andere – und in der Nietzsche starb.
Übrigens: Sie sind wirklich anders, die Revolutionäre und ihre Nachfahren im Osten. Wer ungeduldig fragt: „Ist das denn möglich – 25 Jahre nach der Wende?“, der hat Revolutionen nicht verstanden und kennt nicht mehr die Spätfolgen von Diktaturen, der spürt nicht die Narben in den Seelen der Menschen, die immer noch schmerzen, der ahnt nur, wie schwer es ist, ein Paradies und das Glück der Freiheit zu erwarten und eine Demokratie zu bekommen, die einem keiner so recht erklärt.
So müde auch die Älteren geworden sind, überdrüssig der Veränderungen und der Debatten über Stasi, Mitläufer und Unterdrückung, so neugierig sind die Jungen, so vital und tatendurstig und so unbekümmert. Die Dritte Generation Ost ist das Potential für die Zukunft Deutschlands.
Wir befinden uns in der historischen Zeit „25 Jahre danach“, also im Achtundsechzig des Ostens: Die Jungen halten das Schweigen der Eltern kaum aus; sie wollen wissen, was sie getan und wie sie gelebt haben in der Diktatur. Was ist das für eine Generation, die Dritte? „Eine Generation, die sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht, weil sie in der Gegenwart wenig darüber erfährt“, so beschreibt sie es in einem Buch, das einfach „Dritte Generation Ost“ heißt.
In manchem ähnelt der Aufschrei der jungen Leute aus dem Osten dem Aufschrei der jungen Achtundsechziger einst im Westen:
Während die Älteren, die Väter- und Großväter-Generation, Ruhe haben will, während sie behaupten, die Jungen wollen die alten Geschichten nicht hören, widersprechen die Jungen laut: „Wer sagt, dass die Vergangenheit für die Jungen keine Rolle mehr spielt, der irrt… Wir wollen nicht mehr ausweichen und um alles lavieren, was mit Ostdeutschland zusammenhängt.“
Die Jungen wollen wissen, warum sie autoritär (aber auch liebevoll) erzogen worden sind – eben so, wie es in der DDR üblich war. Sie wollen wissen, ob eine andere Erziehung besser gewesen wäre und in Zukunft auch wäre – vor allem mit Blick auf ihre Kinder. Sie wissen, dass mit einer Revolution nicht alles untergeht, was die Menschen geprägt hat.
Sie ringen um Antworten, was sie aus dem untergegangenen Land mitnehmen können in das neue Land – und sie wünschen,
dass ihre Eltern dabei helfen. Sie ringen um die Werte und fragen: Welche Werte sind so wertvoll, dass sie nicht über Bord geworfen werden dürfen?
Anders als die Achtundsechziger im Westen begehren sie nicht auf und gehen nicht auf die Straße. Sie haben andere
Möglichkeiten: Sie verlassen einfach ihr Elternhaus, lassen die Alten schweigend zurück und gehen zu Studium oder Lehre in den Westen oder fliegen gleich nach England oder Australien. Sie sehen die Trauer in den Augen der Mütter und verstehen sie nicht; diese Trauer belastet sie sogar, weil sie wissen: Es war schwer in der Diktatur, seinen Kindern trotzdem den aufrechten Gang zu lehren. Aber sie Jungen schütteln die Last der Vergangenheit ab, weil es um ihr Leben geht.
Wir sprechen von weit mehr als zwei Millionen junger Menschen, die in den beiden letzten Jahrzehnten der DDR herangewachsen sind. Sie haben heute einen unschätzbaren Vorteil gegenüber ihren Altersgenossen im Westen: Sie kennen zwei Wirtschafts- und Gesellschafts-Systeme, sie waren – im besten Alter – auf sich selbst geworfen, konnten selbstbewusst in eine neue, eine freie Gesellschaft wechseln, ohne hohe Eintrittsgebühren zahlen zu müssen. Sie kennen etwas, was im Wohlstand und Freiheit aufgewachsene Generationen nicht erfahren: Im besten Alter die Richtung ändern, neu anfangen, die Welt neu denken – ja, die Welt verändern und mit der eigenen anfangen.
Die Erste deutsche Generation entstand aus der Dritten Generation Ost und wurde in der Revolution elternlos in dem Sinne: Sie brauchten ihre Eltern nicht mehr. Am liebsten hätten die Eltern ihre Kinder nach der Zukunft gefragt, hätten Rat gesucht, wie es weitergeht. Aber wer in einem streng hierarchischen System von Oben und Unten gelebt hatte, will sich vor seinen Kindern keine Blöße geben – und schweigt, erst recht wenn er sich nicht sicher ist, ob er das richtige Leben gelebt hat in dem falschen der Diktatur.
Kurz angemerkt sei, um nicht fahrlässig euphorisch zu werden: Es gibt auch Kinder der Revolution, die in den falschen Weg abgebogen sind, die ohne Hilfe hilflos wurden und ihre Energie fatal einsetzen – wie die jungen Terroristen der NSU, die mit ihrer Intelligenz ein Jahrzehnt lang mordeten und die Polizei unseres Landes an der Nase herumführten. Auch das ist eine Parallele zu den 68ern des Westens, von denen einige in den Terror gingen und mordeten und die Gesellschaft ihrer Eltern herausforderten.
Die meisten der Jungen, der Dritten Generation Ost, haben ihren Weg gefunden ohne große Hilfe, denn auch ihre Lehrer waren ratlos und die Ratgeber aus dem Westen selten die besten. Für die Jungen ist Deutschland nicht mehr geteilt, auf jeden Fall nicht in Ost und West, sondern eher in Nord und Süd, in Gestern und Morgen.
So wie die Achtundsechziger den Westen verändert haben, vielleicht sogar radikaler als viele denken, so werden die Achtundsechziger des Ostens die gesamte Republik verändern, langsamer zwar und leiser, aber tiefgreifend. Es ist so: Die Revolution hat Deutschland, auch und gerade den Westen, verändert. Um es neudeutsch zu beschreiben: Nachhaltig verändert.
Unser Land ist ein anderes geworden. Man mag es in der äußersten, der südwestlichen Ecke der Republik kaum merken.
Wer es wenigstens mal ahnen will, reise in den Osten – und nicht nur nach Berlin, unserer Hauptstadt, die zu unserer ersten Metropole geworden ist.
Kommt er nach Thüringen oder Mecklenburg zu Besuch, wird er sich wohlfühlen, erst recht in den Touristen-Hochburgen. Bleibt er länger, bekommt er eine nachrevolutionäre Antipathie zu spüren, die ihn verwirrt oder gar verletzt: Viele in der Eltern- und Rentner-Generation mögen den Fremden nicht, erst recht nicht den Fremden aus dem eigenen Land, der sich über das lädierte Selbstbewusstsein wundert, an die Lebens-Geschichte rührt, darüber sprechen oder gar urteilen will. Da geht es dem Fremden nicht besser als den Kindern der Revolution.
Trotzdem: Wir können die Revolutionäre nur lieben, zumindest aber sollten wir sie und ihr Leben respektieren.
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Im Südkurier erschien die Liebeserklärung am 30. Oktober auf den Seiten 2-3. Online hat ihn die Redaktion in die Exklusiv-Abteilung gestellt:
29.10.2014 | THEMEN DES TAGES | Exklusiv
25 Jahre Mauerfall: Warum wir stolz sein können. Eine Liebeserklärung an Ostdeutschland
25 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen – aber noch heute fremdeln die Deutschen miteinander. Paul-Josef Raue, einer der angesehensten Journalisten Deutschlands, erklärt exklusiv für den SÜDKURIER, warum die Deutschen stolz auf ihren Osten sein können.
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