Elender Lokaljournalismus? „Prügelei im Nachbardorf statt Bürgerkrieg in Syrien“

Geschrieben am 25. Juli 2012 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 25. Juli 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus, Online-Journalismus.

Jörg Biallas, Chefredakteur von „Das Parlament“, schaudert, wenn er Lokalteile von deutschen Regionalzeitungen liest:

Es gibt zahlreiche Beispiele, dass Tageszeitungen den richtigen Ansatz einer dosierten Regionalisierung mit platter Provinzialisierung verwechseln.

In einem Beitrag zum „Qualitätsjournalismus“ in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (29-31/2012 vom 16. Juli) entdeckt der Hauptstadt-Journalist im Lokalen wenig Qualität:

Oktoberfest-Prügelei im Nachbardorf statt Bürgerkrieg in Syrien, Verkehrsunfall an der Ecke statt Flugzeugabsturz in Asien, Gemeinderat statt Bundestag.

Für Biallas werden „Nichtigkeiten aufgeblasen mit der Begründung, entscheidend sei ausschließlich der lokale Bezug“. Der „Zwang zum Regionalen mit einem Hang zum Provinziellen“ gehe „auf Kosten einer nachrichtlichen Vollversorgung“.

Woher Biallas seine Erkenntnisse nimmt, wird nicht klar. Im Gegensatz zu den meisten Beiträgen in „Politik und Zeitgeschichte“, die wissenschaftlichen Anspruch stellen, verzichtet er auf Fußnoten, auf Quellen, kurz: auch aus journalistischer Sicht auf nachvollziehbare Recherche.

Er nimmt weder die Leserforschung wahr, die in den vergangenen Jahren wesentliche Erkenntnisse gebracht hat (siehe Haller in Leipzig und andere), noch beobachtet er eingehend die intensiven und kontroversen – in der Tat höchst kontroversen – Debatten innerhalb des Lokaljournalismus, noch hat er die beachtlichen Konzepte gelesen, die Jahr für Jahr beim Deutschen Lokaljournalistenpreis eingereicht werden, noch die Ansätze mit hyperlokalen Angeboten in der Online-Welt usw.

Es gibt bei 1500 Lokalteilen, die täglich erscheinen, ausreichend Beispiele, die das Elend belegen; es gibt aber eine stetig wachsende Zahlvon Redaktionen, die nicht nur das Gegenteil beweisen, sondern hohe Qualität zeigen.

Der Beitrag aus dem Elfenbeinturm des elitären Journalismus, der Qualität für sich allein beansprucht, wäre nicht bemerkenswert, wenn er nicht in einem Heft erscheint, das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird. Gerade diese unorthodoxe Behörde hat den politischen Lokalteil entdeckt und gefördert; sie hat erkannt, dass Qualität im Lokalen unverzichtbar ist für eine Demokratie, die von den Bürgern verstanden und getragen wird.

Der moderne Lokaljournalismus provoziert die Debatten der Bürger, ermuntert sie zum Mitmachen; der moderne Lokaljournalismus ist die neue Qualität der Demokratie. Während Biallas die Zukunft des Lokalen nicht mehr als Massenprodukt sieht, sondern eher klein, aber fein „als festen Bestandteil einer bürgerlich-elitebewussten Lebensführung“, hat Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale, eine ganz andere Vision.

Vor kurzem sprach er in Siegen während der Tagung „Lokale Öffentlichkeit und politische Partizipation“ über die digitale Medienwelt und Lokaljournalismus:

Ob und in welchem Maße neue und alte Partizipationswege der Demokratie neues Leben einhauchen können, hängt wesentlich davon ab, inwieweit es dem Journalismus im Lokalen gelingt, als informierende, moderierende und kritische Instanz weiterhin wahr- und ernst genommen zu werden…

Jedem, der an lebendiger Demokratie gelegen ist, muss hoffen, dass dieser Sprung (in die digitale Welt) gelingt. Wir brauchen diese mediale Mitte der sich immer weiter zersplitternden Öffentlichkeiten. Wir brauchen eine Kraft, die den Fliehkräften des Individualismus und der Interessenvertretung durch Aufklärung über die Bedeutung der Gemeinschaft und des allgemeinen Wohls entgegenwirkt. Ich sehe keine andere Instanz (als den Lokaljournalismus), die – nicht punktuell, sondern auf breiter Front – diese Dienstleistung erbringen könnte.

(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“ + 47 „Newsdesk und Ressort“ + 7 „Die Online-Redaktion“)

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