Grass, der Gleichmacher – Friedhof der Wörter

Geschrieben am 13. April 2012 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 13. April 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

Die goldenen zwanziger Jahre waren der kurze Frühling der freien Presse in Deutschland. Er endete abrupt 1933. Gleichschaltung nannten die Nationalsozialisten den Abschied von der Pressefreiheit.

Der Amerikaner William L. Shirer arbeitete zu Beginn des Dritten Reichs als Berliner Korrespondent einer amerikanischen Nachrichtenagentur. In sein „Berliner Tagebuch“ schrieb Shirer am 4. Januar 1936 über die Gängelung der Journalisten:

„X. von der Börsenzeitung wird nicht hingerichtet. Seine Todesstrafe ist in lebenslange Haft umgewandelt worden. Sein Vergehen: Er hatte gelegentlich gesehen, dass einige von uns Kopien der Goebbelschen täglichen geheimen Befehle für die Presse erhielten. Die Lektüre lohnte sich, täglich wurde hier die Unterdrückung bestimmter Wahrheiten und ihre Ersetzung durch Lügen angeordnet.
Wie ich hörte, hat ihn ein polnischer Diplomat verraten, ein Mann, dem ich niemals traute. Die Deutschen sind, wenn sie nicht ausländische Zeitungen lesen können, völlig abgeschnitten von den Ereignissen in der Welt draußen, und natürlich erfahren sie auch nichts davon, was sich hinter geschlossenen Türen in ihrem eigenen Land abspielt.“

Die gleichgeschalteten Zeitungen im Dritten Reich hatten bedingungslos dem Diktat des Führers zu gehorchen; selbst die Wörter, die zu drucken waren, befahl der Propaganda-Minister in seinen Geheimbefehlen für die Presse. Das Nazi-Wort von der „gleichgeschalteten Presse“ griff Günter Grass in dieser Woche auf, als er sich über die harsche Kritik auf sein Israel-Gedicht beschwerte.

Er suggerierte: Irgendwo in dieser Demokratie versteckt sich ein kleiner Goebbels und flüstert den Journalisten ein, was sie zu schreiben haben. Man könnte über solch eine Verschwörungs-Theorie schmunzeln, wenn sie nicht ein Nobelpreisträger für Literatur äußerte.

Ein Meister der Sprache müsste wissen, wie Wörter wirken und welche Wörter auf ewig ruhen sollten.

THÜRINGER ALLGEMEINE vom 10.04.2012, S. 14

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