Haben Sie sich heute schon vernetzt? (Friedhof der Wörter)
Früher hatten junge Menschen ein Rendezvous, sie küssten und verliebten sich, kauften sich schließlich zwei Ringe und freuten sich über ihr erstes Kind. Heute vernetzen sie sich, erst zu zweit, später zu dritt.
Wer Karriere machen, viel Geld verdienen und zu Ruhm und Ehren kommen will, dem reichen nicht zwei und drei, der will sich mit allen vernetzen. Vernetzen ist das neue Modewort. Wer im Zeitgeist aufgehen und verschwinden will, der plappert so und denkt sich nichts mehr dabei. Alles ist Netz – und wir fallen durch die Löcher.
Als sich vor einigen Tagen Erfurter trafen, um ihre Stadt attraktiver zu machen, nannten sie ihre Konferenz: Vernetzungskonferenz. Aber ist nicht Zweck jeder Konferenz, sich zu treffen und miteinander zu sprechen – also sich zu vernetzen? Man hätte die Konferenz auch Konferenz-Konferenz nennen können.
Wir treffen uns nicht mehr, wir knüpfen keine Kontakte mehr, koppeln und verkuppeln uns nicht mehr: Wir vernetzen uns – als wären wir zum Leben erwachte Computer. Die verbinden sich in der Tat zu einem weltweiten Netz, zum „Internet“: Das Bild ist ebenso verständlich wie treffend.
Erfunden wurde das Netz von der Spinne: Sie zieht die Fäden und fängt im Netz ihre Beute. Wissenschaftler der Systemtheorie, die entdecken wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält, haben das Bild geborgt. Doch fanden sie nicht nur Systeme, die so gut funktionieren wie das Netz der Spinne, sondern auch das Chaos und seine Theorie, weil Ordnung und Chaos offenbar Geschwister sind.
Für Wissenschaftler und ihre Systeme und für Millionen von Computern ist das Netz ein treffliches Bild. Für Menschen, diese geselligen Wesen, taugt es nicht – mit einer Ausnahme: Machiavelli hätte es nutzen können. Er vermutete, dass Menschen mit Macht darauf aus sind, andere zu gebrauchen, gar zu vernichten, mit Worten und mit Taten. Das tut die Spinne mit ihrem Netz: Sie vertilgt ihre Beute.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 11. November 2013
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