In Halle an der Saale wird der Bürger beerdigt (Friedhof der Wörter)
„Ich fall vom Pferd“, reagierte Verena Ullmann, als dieser „Friedhof“ auf Facebook erschien; „Wahnsinn“ kommentierte Daniel Bauer und „Jessas“ Thomas Mrazek. Das ist der „Friedhof“:
In Halle an der Saale, die sich als Kulturstadt rühmt, werden der Lehrer und der Trainer abgeschafft, der Chef und der Geschäftsführer, der Wähler und der Absolvent – und das Rednerpult. Diese Wörter werden im Stadtrat amtlich beerdigt.
Der Oberbürgermeister und der Amtsrat, der Bibliotheks-Direktor und Pressesprecher, so sie diese Titel überhaupt noch tragen dürfen, müssen die Sprache verändern; diese prangern Halles Volksvertreter an als „auf bestimmte Normvorstellungen fixierte Zuschreibung von Tätigkeiten und Eigenschaften an Frauen und Männern“.
Wie dieser Satz belegt: Es geht nicht darum, die Behördensprache verständlicher zu machen, „Normvorstellungen“ und „fixierte Zuschreibung“ zu beerdigen, sondern die Welt zu verändern – mit Wörtern. Die Menschen werden aus der Sprache getilgt: Aus dem Rednerpult wird das „Redepult“, aus dem Wählerverzeichnis das „Wahlverzeichnis“, aus dem Lehrer die „Lehrkraft“, aus dem Chef die „Führungskraft“ und aus dem Trainer das „Trainingspersonal“.
Auf den Bibliotheks-Direktor, ab heute: Bücher-Führungskraft, kommt viel Arbeit zu. Er muss viele Bücher korrigieren: Aus „Wanderers Nachtlied“ von Goethe wird „Wanderungs Nachtlied“, aus Kafkas „Brief an den Vater“ wird „Brief an ein Elternteil“.
Viele Bürokraten und Politiker haben kein Problem damit, sich schwer verständlich auszudrücken; in Halle dürfen sie diese Unfähigkeit als Weltverbesserung feiern. Nur – wer Sachen mehr mag als Menschen, wer aus dem Bürger die „Bürgerschaft“ macht, der macht die Sprache unmenschlich.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 25. November 2013
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