Journalisten als Skalp-Jäger

Geschrieben am 13. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 13. Januar 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik.

Zur Debatte über Bundespräsident Wulff:

Es  reicht. Die Frage muss unbeantwortet bleiben, ob ein Freund dem Bundespräsidenten, als er noch in der Jungen Union war, kostenlos die Haare geschnitten hat.

Zum einen war der Wulffsche Haarschnitt nie bemerkenswert, zum anderen wäre solch eine Recherche nur noch peinlich. Seit Tagen kommt nichts ans Licht, das rechtfertigte, die Affäre Wulff durchzuhecheln.

Es ist schon erstaunlich, wie lange ein Hinterbänkler der CDU brauchte, um, den Rücktritt fordernd, in die Schlagzeilen zu streben. Doch der stählerne Politiker Wulff hat fast ein Jahrzehnt als Oppositionsführer in Niedersachsen durchgehalten, er kennt das: ausharren, was auch immer geschieht. Wulff tritt von sich aus nicht zurück.

Ein Rücktritt ist, wenn keine Gesetze grob verletzt werden, eine Frage des Charakters. Köhler ist zurückgetreten, weil er die Nerven verloren hat nach eher milder Kritik. Ministerpräsidenten wie Koch oder Stolpe blieben im Amt, obwohl die Vorwürfe massiv waren.

Nur wenn alle Vorwürfe öffentlich sind und hundertfach abgewogen, dann ist es nicht Aufgabe der Medien, einen Rücktritt zu erzwingen. Journalisten kontrollieren ohne Rücksicht und Pardon, aber sie verachten nicht die Demokratie.

Kontrolliert haben sie exzellent; aufgedeckt haben sie, was aufzudecken war. Der Bundespräsident, für das Volk eigentlich ein Bollwerk der Moral, steht da wie ein armer Sünder. Das reicht.

Journalisten sind keine Skalp-Jäger. Verachtung sollten sie sich nicht leisten, auch das ist eine Frage des Charakters.

(Leitartikel Thüringer Allgemeine“ vom 13. Januar 2012)

 

Ein Journalist, der anonym bleiben möchte, schreibt dazu:

„Ich möchte Ihnen ausdrücklich danken für Ihren heutigen Kommentar zu Christian Wulff. Dieser Ton war überfällig! Er drückt genau das aus, was mich seit Tagen beschäftigt und zunehmend belastet. Danke vor allem auch für Ihren (hoffentlich erfolgreichen) Versuch zur Ehrenrettung unseres Berufsstandes. Ich hatte eigentlich gehofft, dass mit Überwindung auch der zweiten Diktatur auf deutschem Boden die erbarmungslose Jagd auf Menschen endgültig überwunden worden sei. Haben die denn alle den Verstand verloren?

Dieses unreflektierte Herdenverhalten unter den ach so klugen und fehlerfreien „Journalisten“ kotzt mich mehr und mehr an! Ich vermisse Stimmen wie die Ihre – und habe Angst, dass wir in unserer Zunft ethisch immer weiter abdriften Und ohne Wulff Recht geben zu wollen: Der Rubikon ist überschritten!

 

(zu: Handbuch Kapitel 3 „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“)

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