Mehr als ein Streit um ein Wort: „Völkermord“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 23. April 2015 von Paul-Josef Raue.

„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“, so beginnt Karl Marx sein Kommunistisches Manifest. Er hätte den Satz nicht schreiben können, wäre er den Journalisten, Wissenschaftlern und Politiker gefolgt, die proklamieren: Man kann eine komplizierte Wirklichkeit, eine komplexe Sache nicht auf einen Begriff reduzieren!

Man kann, und wir tun es immer wieder. Sicher können wir streiten und Bibliotheken füllen, was „Kommunismus“ ist und was nicht – aber für den Streit brauchen wir ein Wort und keine wissenschaftliche Abhandlung. Dies gilt für alles, was wichtig ist, umstritten, weltverändernd.

Das Argument, die Welt sei zu kompliziert für ein Wort, soll in der Regel eine Diskussion verhindern. So war es beim „Unrechtsstaat“ in Thüringen, so ist es in der aktuellen Debatte um den „Völkermord“ an den Armeniern. Wie argumentiert unser Außenminister Steinmeier aus Sorge um diplomatische Verwirrungen mit der Türkei:

Die Greuel der Vergangenheit lassen sich nicht auf einen Begriff oder den Streit um einen Begriff reduzieren.

Doch, Herr Minister – oder wollen Sie auch den Völkermord an den Juden unter diesen Satz stellen?

Wer Menschen vernichten will, die einer Religion, Abstammung oder Kultur sind, der will ein Volk vernichten. Genau dies geschah vor hundert Jahren in der heutigen Türkei. Übrigens wussten deutsche Diplomaten Bescheid und funkten ihre Berichte nach Berlin. Dort herrschte, offenbar den Mord billigend: Funkstille.

„Völkermord“ ist mehr als ein Streit um ein Wort, es ist der Versuch, Verantwortung abzuwälzen. Der Versuch unserer Regierung, sich vor der Verantwortung zu drücken, ist gottlob gescheitert. Wir wissen, zum Schrecken der Welt, was Völkermord ist.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 27. April 2015

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