NSU-Prozess: Wie viel Vorverurteilung darf sein?
Wenn die Presse die Rolle von Inquisitoren übernimmt, kennt sie keine halben Sachen
schreibt ed2murrow2 in seinem Blog „Heute schon exorziert?“ und lenkt den Blick von der Gerichts-Tombola zur Vergabe der Presseplätze auf ein zentrales Thema von Gerichtsberichten: Wie viel Vorurteilung darf sein?
Keine – das ist die korrekte Antwort. Aber dann dürften nur noch Protokolle einer Verhandlung in den Zeitungen stehen und vorab die Veröffentlichung der Anklageschrift (wobei das Zitieren daraus immer noch verboten ist) nebst Gegenrede der Verteidiger.
Jede Auswahl von Fakten, jedes Porträt eines Angeklagten oder Opfers, jede Reportage zeichnet ein Bild, das sich ins Bewusstsein der Leser brennt. Wo sind die Grenzen?
Überschritten hat sie die Bildzeitung mit der Schlagzeile „Der Teufel hat sich schick gemacht“ und den Zeilen:
Als Beate Zschäpe (38) den Saal betritt, stehen wir Journalisten auf unseren Sitzen. Einen Blick erhaschen auf den Teufel, der kurz in unsere Richtung blickt. Was ist das, das da in ihren Augen blitzt? Reue? Angst?
ed2murrow2 berichtet über den Aufmacher im Magazin von Österreich Eins – „allerdings nicht als lobende Erwähnung, sondern mit dem eigenen Statement von der ‚Vorverurteilung auf den ersten Blick'“:
In dem knapp 2 Minuten langen Feature wurden zwei weitere Beispiele angeführt:
+ Das der in Wien im vergangenen Jahr verurteilten Mörderin Estabiliz-Carranza, die sich im Gerichtssaal mit einem „kleinen grauen Kleid“ präsentiert hatte.
+ Und das der Amanda Knox, nach einem nicht rechtskräftigen Freispruch in Italien auf freien Fuß gesetzt, die mit „Engel mit den eiskalten Augen“ tituliert wurde.
Das Fazit des ORF: „Egal ob schuldig oder nicht, vorveruteilt wurde sie alle, ihre Beinamen werden sie nie wieder los.“
Erwähnt wird in dem Blog das Urteil des Bundesgerichtshofs vom März 2013, in dem die Stigmatisierung eines Angeklagten durch Medienberichte als rechtswidrig bezeichnet wird, und formuliert wird in einem Satz das eherne Prinzip eines Rechtsstaats: „Unschuldsvermutung ist keine Frage von Solidarität, sondern Prinzip einer zivilen Gesellschaft.“
Die folgende Frage des Bloggers muss jedem Journalisten allerdings peinlich sein: Könnte ein gewisses Unbehagen Kommentatoren davon abhalten, für Zschäpe die Unschuldsvermutung zu reklamieren?
ed2murrow2 ist auch ein Kenner der Philosophie-Geschichte: Er liest die „Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege“ von Anselm von Feuerbach (1775 – 1833), in denen es – wie bei der Bildzeitung – um Teufel und Hexen geht. Feuerbach kannte noch die Prozesse der Inquisition und fragt sich, ob „es hinsichtlich der beglaubigenden Handlungen, und überhaupt räthlich sey, die Thüren blos einem auf Gerathewohl sich darbietenden Publikum zu öffnen, oder bestimmte, vom Volk zu erwählende Gerichtszeugen, in gesetzlicher Zahl, den Gerichten beizuziehen?“
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Vielen Dank für die freundliche Besprechung.
Ein Satz von Ihnen ist Anlass für den Kommentar. Sie schreiben beiläufig und in Klammern: „wobei das Zitieren daraus immer noch verboten ist“. Völlig anders ist die Situation in Italien, wo, nach Anbringung des Abschlussvermerks der Staatsanwalschaft bzw. des Ermittlungsrichters die Akte und ihr Inhalt zitierfähig werden. Das war Gegenstand heftigster Kontroversen zur sog. legge bavaglio, zum Knebelungsgesetz, mit dem die vormalige Regierung Berlusconi in zwei Anläufen versucht hat, derartige Zitate zu unterbinden, aus gut nachvollziehbaren parteilichen Gründen.
In puncto Öffentlichkeit des Verfahrens gäbe es in Deutschland noch einiges mehr zu tun, um nicht auf Gedeih und Verderb auf die in Teilen äußert subjektive Sicht der Wissensvermittler angewiesen zu sein. Dagegen feiern hierzulande Journalistenverbände das oben zitierte Urteil des BGH als Sternstunde der Pressefreiheit, das ist schon sehr seltsam.
Erlauben Sie bitte eine kleine Korrektur zum Schluss: Feuerbach hat sich erfreulicherweise nicht mit Teufeln und Hexen beschäftigt, sondern mit der Abkehr vom Inquisitions-, dem geheimen Prozess zugunsten von Verhandlungsformen, deren republikanische Inspiration aus den napoleonischen Cinq Codes nicht übersehen werden sollte.
Beste Grüße, e2m
Sie haben Recht, und ich war in Eile. Ich habe den Anselm von Feuerbach mit dem Philosophen Ludwig Feuerbach verwechselt, der Marx und Engels inspiriert hat (Thesen über Feuerbach, darunter die berühmte elfte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“). Mein Feuerbach hat allerdings einiges über die Religion und den Teufel geschrieben: