„Polnische Todeslager“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 15. Juni 2012 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 15. Juni 2012 von Paul-Josef Raue in Friedhof der Wörter.

„Terroristen lebten in einer konspirativen Wohnung in Zwickau“, so stand es in vielen Zeitungen.

Wie wird eine Wohnung konspirativ? Durch dunkle Möbel, grelle Lampen oder braune Tapeten?

Nein, eine Wohnung kann schön sein und hell, gemütlich und sauber − aber niemals konspirativ; vielmehr ist es eine Wohnung von Verschwörern, also von Menschen, die eine Konspiration planen.

Es gibt auch keinen morgendlichen Spaziergang, sondern nur einen Spaziergang am Morgen; kein elterliches Haus, sondern das Haus der Eltern oder das Elternhaus.

Ein Eigenschaftswort kann kein Hauptwort vertreten, weder die Konspiration, noch der Morgen, noch die Eltern. Wer es dennoch tut, kann im schlimmsten Fall sogar Völker gegeneinander aufbringen.

US-Präsident Obama ehrte einen Polen mit der Freiheitsmedaille und sprach von einem „polnischen Todeslager“, aus dem der Geehrte Berichte geschmuggelt hatte. Doch die Todeslager waren nicht polnisch, sondern von deutschen Nazis gebaut. Polnische Politiker, quer durch alle Parteien, gerieten in Rage und fragten den befreundeten US-Präsidenten:

  • Warum verwischt er den Unterschied zwischen „polnischen Todeslagern“ und „Todeslagern in Polen“?
  • Will er sagen, auch Polen hätten in den Nazi-Lagern getötet?
  • Hat er vergessen, dass mehr als sechstausend „Gerechte unter den Völkern“ aus Polen kamen?

Eine Beleidigung des polnischen Volks!, sagt ein Politiker. Inkompetent!, ein anderer. Sogar der Ministerpräsident schaltet sich ein: „Wer von polnischen Todeslagern spricht, der spricht, als habe es keine Nazis gegeben, keine deutsche Verantwortung.“

Zwei befreundete Nationen streiten sich − nur weil der Präsident ein Hauptwort in ein Eigenschaftswort verwandelte.

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