Ratschlag für Reporter: Sich einfach treiben lassen
Willy hatte mir empfohlen, mich einfach treiben zu lassen. „Die interessantesten Geschichten findet man sowieso immer da, wo man sie nicht erwartet“, hatte er gesagt. „Das ist wie im Leben.“
Das war noch einmal eine Passage aus Marion Braschs Autobiografie „Ab jetzt ist Ruhe“.
Sie erinnert mich an meine Zeit als Lokalchef: Wir waren ein kleines Team, und ein älterer kluger Kollege riet uns, einmal in der Woche für ein paar Stunden oder sogar den ganzen Tag einfach durch die Stadt oder durch die Dörfer zu streifen, genau hinzuschauen, mit den Leuten quatschen, zu einem fremden Frisör zu gehen.
Wir haben das jahrelang gemacht, dabei die schönsten, manchmal auch schlimme Geschichten erfahren, eben Überraschendes. Wir haben es genossen. Und ich kann es noch jedem Lokalredakteur empfehlen, jedem Reporter. Das ist auch keine Frage der Zeit, sondern des Wollens, der Freude an den Menschen, ja es ist die Lust auf Menschen.
Das Überraschende gefällt auch den Lesern. Die Zeitung kann noch so gut geordnet, noch so brillant geschrieben sein, wenn sie nur genau das enthält, was die Leser erwarten, wird sie dennoch langweilig. Es ist zwar ein Grat, auf dem die Lokalredakteure balancieren: nicht zu viel Gewohntes und nicht zu viel Neues.
Aber diese Balance schafft den Rhythmus der Zeitung, den die Leser mögen.
PS. Sich treiben lassen, das macht die junge Marion Brasch in London. Das ist jedem in einer fremden Stadt zu empfehlen: Erst die Stadtrundfahrt, um alle Antiquitäten zu fotografieren, dann in die Seitenstraßen gehen, immer weiter.
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