Respekt und Nähe – am Beispiel des Amoklaufs in Erfurt
Lokaljournalisten suchen in der Regel nicht die Sensation, zumindest nicht auf Kosten der Menschen, mit denen sie Tür an Tür leben. Das Beispiel des Amoklaufs (am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt), auch wenn er ein Extremfall ist, zeigt deutlich das Dilemma des Lokaljournalisten, eben die Balance zwischen Distanz und Nähe.
Das ist ein Auszug aus meinem Beitrag in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung über Lokaljournalismus und Verantwortung. Es ist gerade ins Netz gestellt worden: „Respekt und Nähe“.
Hier mein Beitrag in der vollständigen Fassung, geschrieben im Februar 2012 (1. Teil):
Ein 19jähriger ermordet im April 2002 im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen: zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten – und tötet sich am Ende selbst. Der Amoklauf ist ein Schock für alle Erfurter.
Wer einen Angehörigen verloren hat, einen Freund oder Bekannten, der ringt um Fassung, manche verlieren sie. Sie wollen nur noch schweigen angesichts des Unbegreiflichen. Ihr Schmerz verdoppelt sich durch jedes Bild, jeden Text, der in der Zeitung steht, oder jeden Film, der im Fernsehen läuft.
Die Redakteure in der Lokalredaktion können nicht schweigen – auch wenn einige überwältigt sind, weil sie Angehörige oder Freunde verloren haben. Es gibt keinen in der Redaktion, der das Gymnasium nicht kennt, sei es von der eigenen Schulzeit her, sei es von Terminen, um vom „Gutenberg“ zu berichten:
Wie sollen die Redakteure berichten?
Was sollen sie erwähnen?
Welche Sprache ist angemessen?
Schon die Wahl der Worte ist schwer: Darf man von einem Amoklauf sprechen?
Das Wort verweist auf eine spontane Tat statt auf einen lang geplanten Mord. Darf man von einem Massaker sprechen? Das Wort erinnert eher an tausendfachen Mord, gar Völkermord.Auch wenn für die Angehörigen Schweigen die beste Lösung wäre, so wiegt schwerer der Anspruch der Bürger, zu erfahren, was wirklich geschehen ist. In einer Gesellschaft, in der unzählige Medien unaufhörlich berichten, ist das Schweigen keine Alternative.
Es ist und war immer schon Aufgabe von Journalisten. die Wahrheit herauszufinden – auch um Legenden vorzubeugen und Agitatoren die Chance zu verwehren, aufzuwiegeln und die Trauer in Hass und Wut zu verwandeln. Zur Wahrheit gibt es keine Alternative.
Die Gesellschaft, als die Gemeinschaft der Bürger, muss versuchen, eine solche Tat zu verstehen – zum einen um Vorsorge zu treffen, wie künftig solch ein Amoklauf zu verhindern ist; zum anderen um herauszufinden, was schief läuft im Umgang miteinander, vor allem in der Bildung der jungen Generation.
Die Gesellschaft muss verstehen, um handeln zu können. Aber wie sollen Redakteure berichten? Recht einfach ist die Frage zu beantworten: Wie sollen sie nicht berichten.
Reporter haben in Erfurt die Trauernden nicht in Ruhe trauern lassen, haben Fotos von den Opfern aus den Kränzen am Sarg gestohlen. Sie haben Menschen, die bei sich bleiben wollen, selbst bei der kirchlichen Trauerfeier in die Öffentlichkeit gezerrt – als wären es Superstars oder Prominente, die die Kameras suchen; dabei waren diese Menschen gegen ihren Willen und gegen ihren Lebensplan in ein Unglück gestürzt, das der Verstand nicht fassen kann und das die Seele verdunkelt.
Die Menschen können zwischen den Zeilen lesen: Ihnen reicht die Andeutung, die Beschreibung durch Worte, um sich selbst eine Vorstellung von der Verzweiflung machen zu machen. Worte sind kühler, glaubhafter, menschlicher als Fotos, weil sie dem Leser die Chance bieten, sich selber ein Bild malen zu können. Worte, klug gewählt, fördern das Verstehen; Fotos können das Verstehen verstellen.
Wenn die Redaktion erklärt, dass viele der Trauernden nicht sprechen wollen – und dass die Redaktion dies akzeptiert, dann akzeptieren es auch die meisten Leser. Man lässt seine Nachbarn in Ruhe trauern, das ist seit altersher eine menschliche Regung.
Die Menschen können auch hinter die Bilder schauen: Sie brauchen keine verzweifelten Gesichter; ihr Mitgefühl ist so groß, dass ihnen Andeutungen und Gesten reichen, um sich die Trauer in den Augen der Angehörigen vorstellen zu können. Sie müssen nicht Bilder von verweinten Augen sehen, um mit den Menschen zu leiden.
Nach den Morden am Gutenberg-Gymnasium haben die Medien zu Recht harte Kritik einstecken müssen; Erfurter haben Journalisten beschimpft, bespuckt, mit Steinen beworfen, wenn sie Jagd machten nach Gesichtern, Bildern und intimen Szenen.
Dass diese Kritik auch in den Medien selber diskutiert worden ist, zeigt, dass unsere Demokratie zumindest robust ist und, man möchte hoffen, Journalisten auch lernfähig. Doch als 2009 ein 17jähriger in Winnenden fünfzehn Menschen ermordete, drehten Journalisten auf der Jagd nach der Sensation wieder durch – als hätten sie nichts gelernt aus der massiven Kritik nach dem Amoklauf in Erfurt.
Lokaljournalisten suchen in der Regel nicht die Sensation, zumindest nicht auf Kosten der Menschen, mit denen sie Tür an Tür leben. Das Beispiel des Amoklaufs, auch wenn er ein Extremfall ist, zeigt deutlich das Dilemma des Lokaljournalisten, eben die Balance zwischen Distanz und Nähe:
• Auch Lokaljournalisten brauchen Distanz, gar kühlen Abstand, um sich nicht von Emotionen übermannen zu lassen und um Verantwortung zu klären.
• Lokaljournalisten brauchen Nähe, um mit den Menschen sprechen zu können, sie in ihrem Schmerz zu begreifen, um Unerklärliches doch erklären zu können und sei es bruchstückhaft.
(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)
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