Schlag nach im „Handbuch des Journalismus“: Leser-Kritik an einer Wahlkampf-Reportage
Wer im Wahlkampf eine Reportage schreibt, sogar locker, vielleicht auch flockig mit Kandidaten und Emotionen umgeht, den kritisieren Leser schnell: Das ist kein guter Journalismus; der sei sachlich, objektiv und langweilig.
In der Braunschweiger Zeitung schrieb eine Leserin zu der Reportage „Martin Schulz – wie ein Popstar umjubelt“ (15. September 2017):
„Betrachte alles von der guten Seite“, ist meine Devise. Bei oben genanntem Artikel ist das allerdings unmöglich. Dass alles, was in den verschiedenen Medien geschrieben oder gesprochen wird, nicht der Meinung aller entspricht, ist nicht zu ändern und gut so. Gleichwohl gilt auch für Journalisten, sich an Regeln zu halten, die guten Journalismus ausmachen. Den publizistischen Grundsätzen im Pressekodex ist zu entnehmen, dass Journalisten ihre publizistische Aufgabe fair, nach bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflusst von persönlichen Interessen und sachfremden Beweggründen wahrnehmen sollten.
Trifft das auf den genannten Artikel zu? Dort schreibt Frau Richter (die Reporterin) unter anderem: „kühner Herausforderer“, „selbst ein dänischer Journalist“, „keck im offensichtlichen Parkverbot“, „außergewöhnliche Vorgänge“, „lugen … finster drein“, „heftig am Bierzelt zerrt“, „behilft sich mit Spickzettel“, „korrigiert er auf Zuruf“, „spult seine Rede nicht herunter“.
Der Ombudsrat der Zeitung nahm sich des Falls an und bat die Reporterin Ann Claire Richter, Stellung zu nehmen (14. Oktober 2017):
Ich bedauere sehr, dass der Leserin mein Text zum Wahlkampfauftritt von Martin Schulz missfällt. Möglicherweise hat sie zu diesem Anlass einen nüchternen nachrichtlichen Bericht erwartet, wie er vielfach auf unseren Politikseiten zu finden ist. Mein Auftrag aber war es, eine Reportage für den Lokalteil zu schreiben, die die Atmosphäre bei diesem Politiker-Besuch einfangen sollte.
Während eine Nachricht oder ein Bericht Distanz wahren müssen, dürfen Reportagen ausdrücklich sehr nah und bildhaft an das Geschehen heranrücken. Es gilt sozusagen, mit Worten einen Film im Kopf des Lesers zu erschaffen. Im „Handbuch des Journalismus“ von Wolf Schneider und Paul-Josef Raue ist die Reportage unter der Rubrik „Die unterhaltende Information“ zu finden.
Formulierungen wie „er spult seine Rede nicht herunter“ oder „Wind, der heftig am Bierzelt zerrt“ in meinem Text widersprechen meines Erachtens also nicht den Regeln, die guten Journalismus ausmachen.
In der Kritik wird jedoch deutlich, woran sich Leser reiben:
- Wertungen des Redakteurs, also versteckte Kommentare, mögen nur Leser, die die Perspektive des Redakteurs teilen. „Keck im offensichtlichen Parkverbot“ liest sich flott und neckisch, aber macht deutlich, dass der Journalist den Politiker als hochmütig bewertet: Er kümmert sich nicht wie ein einfacher Bürger um ein Verbot. Bei solchen Adjektiv- und Adverb-Ansammlungen lohnt die Gegenprobe: „Der Politiker stellt sich ins Parkverbot“ – das ist genau beobachtet und überlässt die Wertung dem Leser, der „keck“ urteilt oder „frech“ oder „arrogant“.
- Nicht-Sätze meist vermeiden, stattdessen das beschreiben, was man sieht. „Schulz spult seine Rede nicht herunter“ schreibt der Redakteur. Nur – wie redet er wirklich?
- Adjektive meiden, die dem Leser den Standpunkt des Redakteurs aufdrängen wie „kühn“, „keck“, „außergewöhnlich“ und „finster“. Am besten nutzt man nur Adjektive, die beschreiben, wie ein rotes Buch oder ein weißes Hemd.
Die Reportage, vor allem in Kampfzeiten, soll anschaulich beschreiben, was ist, damit sich der Leser ein eigenes Bild machen – und sein eigenes Urteil bilden kann.