Verfassungsrichter entlarven die politische Sprache (Friedhof der Wörter)
Juristendeutsch ist meist schwer verdaulich und nur selten ein Genuss. Das Bundesverfassungsgericht ist eine Ausnahme, die zu rühmen ist.
Manche Urteils-Begründung entzückt den Liebhaber der deutschen Sprache, selbst vor leicht ironischen Zwischentönen schrecken die Richter in den roten Roben nicht zurück. Gäbe es einen Literaturpreis für juristische Prosa, dann hätte ein Urteil gute Chancen, das der 2. Senat vor sechs Tagen verkündet hat – gegen Kanzlerin Angela Merkel, die systematisch den Bundestag an der Nase herumgeführt habe.
Statt die Abgeordneten in der Euro-Krise unverzüglich, genau und ausführlich zu informieren, habe sie die Volksvertreter mit Floskeln abgespeist – so die Richter einstimmig:
• Was sind ambitionierte Zeitvorgaben?
• Was ist ein Gesamtpaket (comprehensive package)?
• Was ist ein inoffizielles Dokument (non paper)?
• Was ist eine endliche Halbwertzeit?
• Was sind Ergebnisoptionen?
• Warum bieten Texte in englischer Sprache („term sheet“) Vorteile gegenüber deutschen?
Die Richter entlarven die politische Sprache, konkret: die Sprache der Regierung, als Sammlung von Phrasen, als Erniedrigung des Parlaments, kurzum: als Schaden für die Demokratie. Sie zitieren lustvoll und entlarvend einen Beamten des Finanzministeriums, der die Volksvertreter unwissend nach Hause schickte:
Wir legen die Entscheidungen zur Ertüchtigung nicht „kleckerweise“ vor, sondern in einem Paket.
Ergänzung: Leitartikel von Annette Ramelsberger in der SZ vom 22. Juni 2012 (zur Öffentlichkeit des Breivik-Prozesses in Oslo)
Das Gericht nahm die Bürger mit auf den Weg der Wahrheitsfindung. Auch davon kann Deutschland lernen – hier, wo Justitia oft mit einer Bugwelle von Bedeutung einherschreitet und stolz darauf ist, dass nur Ausgewählte sie verstehen. Und kein Richter sich Tränen erlauben würde – egal, wie angerührt er ist.
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