Wann beginnt journalistisches Kesseltreiben gegen Politiker?
Manchmal irritiert mich die Selbstgerechtigkeit unserer Zunft: Zu viele klopfen sich auf die Schultern, ja rühmen sich, die Ministerin Schavan fertig gemacht zu haben. Ist es Aufgabe von Journalisten, Politik zu machen, Minister zu stürzen?
Sicher haben Journalisten Macht, vor allem die Macht und die Pflicht, zu recherchieren und den Mächtigen auf die Finger zu schauen und zu klopfen. Wir schreiben im Handbuch dazu im Kapitel „Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht“:
Über Verfehlungen von Politikern lässt sich sagen: Die Presse hat so viele aufgedeckt, dass vermutlich kein hohes Risiko besteht, Verstöße gegen das Recht oder den politischen Ehrenkodex könnten lange unter der Decke bleiben. Zuweilen scheint eher die umgekehrte Sorge berechtigt: dass ihre Macht einige einflussreiche Journalisten dazu verführt, gegen einen Politiker auch wegen einer Lappalie ein Kesseltreiben zu veranstalten.
Ein Kesseltreiben beginnt, wenn
– die Verfehlung nicht ausreichend recherchiert ist (etwa im Fall Schavan: Warum lässt die Uni Düsseldorf keinen externen Gutachten zu? Warum hat die Universität vor Jahrzehnten nicht ausreichend bei der Promotion geprüft?)
– die Verfehlung lange zurückliegt.
Dazu mein Leitartikel zum Schavan-Rücktritt, geplant für die Thüringer Allgemeine 11. Februar 2013 mit dem Titel „Die Gnade des Vergessens“:
Wissen Sie noch, welche Dummheiten Sie mit 25 gemacht haben?
Joschka Fischer zum Beispiel gehörte der Gruppe „Revolutionärer Kampf“ an, die Gewalt als Mittel der Politik gutheißt; er marschierte bei Demonstrationen mit, die in Straßenschlachten endeten.
Joschka Fischer wurde Außenminister der Bundesrepublik Deutschland.
Annette Schavan war eine fromme junge Frau, die auch Theologie studierte, mit 25 Jahren promoviert wurde mit einem Thema über die Bildung des Gewissens; danach wählte sie katholische Bischöfe zu ihren Arbeitgebern.
Annette Schavan wurde auch Ministerin der Bundesrepublik; sie trat am Sonntag zurück, weil sie mit 25 nicht gewissenhaft gearbeitet haben soll.
Das sind zwei Politiker-Schicksale in Deutschland zu einer Frage, die nicht nur in der Politik gestellt wird: Wie lange dürfen uns unsere Fehler vorgeworfen werden? Wann soll, ja muss das Vergessen beginnen?
Das Bürgerliche-Gesetzbuch nennt als Frist für Verjährung drei Jahre; es gibt einige Ausnahmen. Diese Frist ist vor einem Jahrzehnt radikal verkürzt worden – um aus einer rachsüchtigen Gesellschaft eine tolerante zu machen.
Im Strafrecht darf ein Totschläger nach zwanzig Jahren mit Verjährung rechnen; nur wer mordet, ist von der Gnade des Vergessens ausgeschlossen.
So weit sind unsere Gesetze. Wie weit sind wir, die Bürger eines freien Landes? Müssen wir die Kunst des Vergessens noch lernen?
(zu: Handbuch-Kapitel 3 Warum die Gesellschaft bessere Journalisten braucht + 48-49 Presserecht und Ethik)