Warum ist „Maria durch ein Dornwald ging“ eines der erfolgreichsten Adventslieder? (Friedhof der Wörter)
Wer sich durch ein Dornen-Gestrüpp schlängelt, muss sich tief bücken – sonst verhakt sich die Mütze im Strauch, bekommt die Jacke einen Riss und das Gesicht eine Ratsche. Vor rund zweihundert Jahren mag sich ein unbekannter Dichter durch ein Gestrüpp im Eichsfeld gequält haben, es dürfte frostig gewesen sein. Er schrieb danach ein Lied, das heute zu den bekanntesten im Advent zählt – weil es, im Gegensatz zur stillen und heiligen Nacht, unsentimental ist und schwer daherkommt: „Maria durch ein Dornwald ging“.
Es gibt bei uns keinen Dornwald, er ist typisch für tropische Gebiete, in denen es fast nie regnet. Aber wir können ihn uns vorstellen: Ein mystischer Ort während der kalten Tage vor Weihnachten.
Die Hauptwörter in dem Lied sind kurz, meist zweisilbig, und von Vokalen durchdrungen – wie alle Wörter, die uns berühren, von Herz bis zu Schmerz; es gibt keine überflüssigen Adjektive, abgesehen vom „kleinen Kindlein“. Unserem Drang, kein Wort zu wiederholen, verweigert sich der Dichter: Maria wird nicht zur Jungfrau oder Gottesmutter, sie bleibt Maria – sieben Mal; das Kindlein bleibt Kindlein, die Dornen bleiben Dornen, alles wiederholt sich und reimt sich und prägt sich ein wie in der dritten Strophe:
Da haben die Dornen Rosen getragen,
Kyrie eleison.
Als das Kindlein durch den Wald getragen,
da haben die Dornen Rosen getragen.
Jesus und Maria.
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Thüringer Allgemeine 15. Dezember 2014
Das Lied mit den drei Strophen, wie sie heute gesungen werden:
Maria durch ein Dornwald ging,
Kyrie eleison.
Maria durch ein Dornwald ging,
der hat in sieben Jahrn kein Laub getragen.
Jesus und Maria.Was trug Maria unter ihrem Herzen?
Kyrie eleison.
Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen,
das trug Maria unter ihrem Herzen.
Jesus und Maria.Da haben die Dornen Rosen getragen,
Kyrie eleison.
Als das Kindlein durch den Wald getragen,
da haben die Dornen Rosen getragen.
Jesus und Maria.
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