„Von was soll uns diese regelmäßige einseitige Geschichtsaufarbeitung eigentlich wieder ablenken, von der Abriegelung des Gaza-Streifens, von der Bedrohungslage durch TTIP und TISA?“, fragt ein Leser, der sich im Internet des hübschen Nicknames „erfordyx“ bedient; Nickname ist die englische Bezeichnung für einen Spitznamen, meint aber in Internet-Kommentaren die Anonymität, das Verschweigen des eigenen Namens.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Die Frage erinnert mich an drei Zeilen des Gedichts „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht, der bis zu seinem Tod in der DDR lebte:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Brecht war vor den Nazis auf die dänische Insel Fünen ins Exil geflüchtet; dort entstand sein Gedicht, das mit der fast sprichwörtlich gewordenen Zeile beginnt: „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“.
Die Zeiten waren finster: In den Zeitungen stellten die Nazis die Verfolgung der Juden als ehrenvolle Tat dar, und alle schwiegen, keiner durfte sie öffentlich eine Untat nennen.
Heute haben wir in Deutschland einen so vielstimmigen Chor in den Zeitungen und Magazinen, dass es eine andere Schwierigkeit gibt: Wer behält noch den Überblick? Wer schreibt die Wahrheit? Welcher Meinung kann ich folgen?
Nehmen Sie das Freihandelsabkommen mit den USA, kurz TTIP genannt: Sie finden Dutzende von Artikeln und Kommentaren in unserer Zeitung, manche eine komplette Seite füllend; sie können viele Briefe unserer Leser entdecken mit unterschiedlichen Meinungen.
Dabei nehmen wir als Zeitung für Thüringer die Perspektive unserer Leser ein: Was bedeutet TTIP für die Wirtschaft in Thüringen, für die Arbeitsplätze und unseren Wohlstand?
Wir wissen aus vielen Gesprächen mit unseren Lesern, dass sich viele für die Geschichte unseres Landes interessieren. Im 25. Jahr nach der Einheit sind wir entlang der kompletten Grenze zwischen Ost und West gewandert, als erste Zeitung in Deutschland überhaupt: Das erwarten viele Leser von uns in dem Land, das den längsten Abschnitt dieser Grenze hatte.
Und warum? Man muss auch die Vergangenheit kennen, vor allem die Schrecken, um wachsam zu bleiben. Zitieren wir noch einmal Brecht; er schließt sein Drama „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ mit den Zeilen:
Dass keiner uns zu früh da triumphiert. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!
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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 25. Juli 2015
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