Wenn der Mensch Gott spielt – Der Weihnachts-Leitartikel über Maria, Mark Zuckerberg und den Himmel
Heute brauchen wir keinen Engel mehr, der mit einem Gruß von Gott kommt und Maria vorhersagt: „Du wirst schwanger werden!“ Heute schickte Mark Zuckerberg eine Mail:
Hallo Maria, Glückwunsch von unseren Computern! Sie haben herausgefunden: Du bist schwanger und bekommst einen gesunden Jungen. Wir empfehlen Dir für die nächsten Monate das vielfach erprobte ,Engel-Vitamin‘ mit all den Komponenten, die Dich und Dein Kind glücklich machen. Die Probepackung gibt es zum Sonderpreis…
Wer ist dieser moderne Engel, dieser Mark Zuckerberg? Er hat Facebook gegründet, in dem gut eine Milliarde Menschen unentwegt von sich erzählen – von der neuen Frisur, vom netten Seitensprung oder der Krankheit des Großvaters. All das weiß auch Mark Zuckerberg.
Die besten seiner fünftausend Mitarbeiter sind gerade dabei, ein modernes Orakel zu programmieren – etwa zur Vorhersage einer Schwangerschaft. Wenn sich eine Frau plötzlich Zink-Tabletten kauft und Cremes ohne Parfüm, dann ist sie wahrscheinlich schwanger – auch wenn sie es selber noch nicht weiß.
Woher weiß es Mark Zuckerberg? Wir schreiben es ihm. All die harmlosen Nachrichten auf Facebook ergeben am Ende ein genaues Bild: Wie wir leben, wie wir denken, wie wir planen. Schließt sich Mark Zuckerberg zusammen mit den anderen, die unsere Daten sammeln, dann kennt er die Seelen der Welt: Was kaufen wir ein? Was suchen wir in den Internet-Lexika? Was steht auf unserer Gesundheits-Karte? In unserer Steuererklärung?
Es ist Weihnachten, der Tag, an dem wir uns erinnern: Gott macht sich zum Menschen. Sprechen wir also von Gott.
Er ist tot, sagte Nietzsche. Wir brauchen ihn nicht, sagte Stalin. Ich bin Gott, könnte Mark Zuckerberg sagen. Denn alles, was je über Gott gesagt wurde, trifft auf ihn und seine Großrechner zu: Allwissend, unendlich – also die Welt umfassend -, ewig, da sein Wissen gespeichert wird bis ans Ende der Tage und darüber hinaus.
Der Mensch spielt Gott. Ist das eine frohe Botschaft? Singen die Drohnen, mit denen Zuckerberg über unseren Seelen schwebt, vom Frieden auf Erden? Entdecken seine Algorithmen die Erlösung? Stillen seine Orakel die Sehnsucht nach Glück?
Zu Weihnachten öffnet sich der Himmel – nicht nur für die Gläubigen, die kein Monopol auf den Himmel haben, sondern vor allem für die Zweifler, die Wahrheits-Sucher, Nörgler und Ewig-Unzufriedenen. Da die Kirche ihr Monopol auf die Deutung der Welt abgeben musste und kein Nachfolger in Sicht ist, schaut jeder in einen anderen Himmel und fragt sich – so er noch fragt: Wo sind meine Grenzen? Wo sind unsere Grenzen? Was ist jenseits davon?
Wer nicht mehr nach oben schaut und nur noch auf seinen Computer-Schirm, der sieht dort die virtuellen Sterne, die ihn einladen, „Gefällt mir“ zu klicken – in einer falschen Welt.
* Ungekürzte Fassung des Weihnachtseditorials der Thüringer Allgemeine, 24. Dezember 2013
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