Wörterbuch der innerdeutschen Grenze (Friedhof der Wörter)
Spezialisten neigen dazu, eine eigene Sprache zu erfinde: Wissenschaftler und Ingenieure, Geheimdienstler und Gottesdiener. Auch DDR-Bürger, die an der Grenze arbeiteten, waren Spezialisten.
Sie fanden neue Wörter wie den „Provokationspunkt“, mit dem sie die Stelle bezeichneten, an der ein West-Bürger unerlaubt die Grenze überschritt. Überschreiten war bisweilen ungenau, manchmal schlitterten sie ins Hoheitsgebiet: An der Sprungschanzen in Braunlage, den Brocken in Sichtweite, lag der Auslauf direkt an der Grenze. Hatte der Springer nur einen Weite-Rekord im Sinn, aber nicht die Grenze zur DDR, schlitterte er mit seinen Skiern in einen anderen Staat – auch wenn der von seiner Regierung nicht anerkannt war.
Auf dem Brocken hieß die weithin sichtbare Kuppen des Brockenhauses „Stasi-Moschee“: Da verbanden Sprachschöpfer Witz und Wissen. In der Tat stocherte die Stasi im Leben anderer an einem Ort, der einer arabischen Moschee glich.
„Pansen-Express“ nannte der Grenz-Jargon die Soldaten, die den Hunden ihr Fressen brachten. Widersprüchlich sind die Aussagen, ob die Hunde bewusst wenig zu fressen bekamen, um besonders schnell und hungrig Flüchtlinge erwischen zu können.
Die Grenzer gaben bekannten Wörtern auch neue Bedeutung: „Kairo“ war nicht nur eine Hauptstadt, sondern die Aufschrift einer Ablage bei der Grenzkontrolle. Darin kamen die Pässe von Ex-Flüchtlingen, Journalisten, Politikern, Pfarrer und anderen möglich Subversiven.
An der Grenze fühlte keiner eine Gemütlichkeit wie im heimischen Wohnzimmer, doch gab es einen Teppich, den „Spuren-Teppich“ – wie der mit einer Egge gezeichnete Streifen hieß, in dem Flüchtlinge und Rehe ihre Spuren hinterließen.
„Feindwärts Spuren“ nannte eine Bäuerin an der Elbe die Spuren hinterm Zaun, nahe dem Fluss. Allerdings hockte der Feind der Flüchtlinge eher „freundwärts“.
Hinter dem letzten Zaun begann das „vorgelagertes Hoheitsgebiet“, ein tückischer Streifen für Flüchtlinge wie für West-Besucher, oft fälschlich „Niemandsland“ genannt – aber in Wirklichkeit noch der letzte Streifen DDR.
2 Kommentare
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Lieber Paul-Josef , eine Super-Geschichte Dein Blog. „Das neue Handbuch des Journalismus und Online-Journalismus“ besonders hat mir der Beitrag – Wie schreiben über das Leben in der DDR? Was ist Wahrheit? Was ist subjektiv? gefallen.
Auf meiner Seite, die ich als „Netzzeitung“ nutze, habe ich viel über das Problem geschrieben. Ich hatte immer die Vorstellung, dass ich, wenn ich einmal Rentner bin, auch meine Geschichte niederschreibe. Nun bin als Dipl.-Ing. nicht schriftstellerisch begabt und sehe Vieles sehr nüchtern. Meine Geschichte beginnt 1947 und geht bis Frühjahr 1989. Es ist eine nicht ganz alltägliche DDR-Geschichte. Wenn Du bei Google einfach mal meinen Namen eingibst, dann findest Du Einiges dazu. Vor Kurzem hat der Berliner Historiker, Axel Drieschner, nach einer großen Ausstellung ein Buch geschrieben. Titel „Ankunft – Eisenhüttenstadt, eine Stadt gegründet von Zuzüglern“. Ich selbst habe noch ca. 150 Seiten Originaldokumente meiner „Geschichte einer Ausreiser-Familie“ (Briefe an Honecker, Stoph, Mielke bis hin zu Dr. Vogel). Auch aus diesem Grund berichte ich so ausführlich, um evtl. von den ca. 180 Freunden einen zu finden, der sich als Ghostwriter zur Verfügung stellt. Einige Autoren befinden sich ja bereits darunter. Danke für Dein Interesse an meiner FB-Seite.
Einen schönen sonnige Restsonntag, G.L.
Kommentare von Lesern online:
• raue verkauft dir auch Schmirgelpapier als toilettenpapier
• Und worin liegt der objektive Wahrheitsgehalt in den Aussagen eines Wessis, der die DDR nie selbst erlebt hat und sie nur vom Hörensagen kennt, Herr Raue?
Lieber Herr Lässig, danke! Wo findet man Ihre Seite, Ihre „Netzzeitung“?